Verblindete randomisierte Studien sind in der evidenzbasierten Medizin der Goldstandard zur Erprobung neuer Therapien. Wenn es aber in der Chirurgie keine vergleichbare Operationstechnik gibt, darf dann der Patient zum Schein operiert werden?
"Innovationstransfer" - Neue bessere Methoden möchte auch die Chirurgie so schnell wie möglich von Forschungslabor auf den Operationstisch bringen. Beim VII. Deutschen Kongress für Versorgungsforschung in Köln vor einigen Wochen diskutierten die Vertreter der schneidenden Zunft, wie Innovatiostransfer á la evidenzbasierter Medizin aussehen kann. Ob ein neuer Wirkstoff wirklich den ersehnten Durchbruch gegen die Krankheit bringt, entscheiden klinische Studien. Immer dann, wenn es zur neuen Substanz keine wirksame Alternative gibt, ist die randomisierte verblindete Studie im Vergleich zum Placebo das Maß allen Fortschritts. Gilt das auch für die Chirurgie? Darf man Patienten zum Schein operieren?
Hautschnitt statt Arthroskopie
Deutsche Ethikkommissionen haben bisher nicht viel von Placebo-OP's gehalten. Von den rund 20 bis 25 Studien, die weltweit bisher mit Schein-Eingriffen kontrolliert wurden, stammt keine einzige aus Deutschland. "In den Versorgungsalltag lassen sich Ergebnisse, die unter Idealbedingungen einer klinischen Studie gewonnen worden sind, oft nur schwer übertragen." meint Hartwig Bauer, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. Wer mittels Placebo-Chirurgie überprüft, ob ein Eingriff tatsächlich notwendig ist, erlebt sehr oft Überraschungen: Schon 1959 zeigte sich bei Patienten mit Angina pectoris, dass eine Ligation der linken inneren Brustwandarterie zum Schein bessere Ergebnisse bringt als die tatsächliche Operation.
Eines der bekanntesten Beispiele für den Placebo-Effekt in der Chirurgie ist die Arthroskopie bei der Kniegelenksarthrose. Am 11. Juli 2002 erschien im New England Journal of Medicine ein Artikel von Bruce Moseley vom amerikanischen Houston Veterans Affairs Medical Center. Ein kleiner Hautschnitt hat danach die gleiche heilbringende Wirkung wie eine Kniespülung oder eine arthoskopische Knorpelglättung. Sechs Jahre lang kritisierten Skeptiker immer wieder, dass männliche Veteranen um 75 wohl nicht als ideale Studiengruppe herhalten könnten. Vor zwei Monaten jedoch bestätigte Alexandra Kirkley von der kanadischen University of Western Ontario Moseleys Ergebnisse - mit sorgfältig ausgewählten "typischen" Arthrosepatienten. Die Studienziele waren genau definierte Parameter, die sich nicht nur an subjektivem Schmerz, sondern auch an der Beweglichkeit des Gelenks orientierten.
Zerstörtes Vertrauen
Auch weitere Veröffentlichungen zeigten immer wieder: Placebo ist oft ebenso wirksam wie der tiefe Schnitt. Also sollten die Ärzte in Zukunft dem Patienten die Wahrheit über ihre Tätigkeit vorenthalten, wenn sich der Scheinoperierte besser fühlt? Nein, sagt Hartwig Bauer. Placebo-Studien dienen der Wissenschaft, nicht der alltäglichen Fürsorge. Die Bedeutung eines Eingriffs sollen Chirurgen nur dann mit dem Placebo-Schnitt kontrollieren, "wenn wir uns nicht sicher sind, ob das Operationsprinzip entscheidend für das Befinden des Patienten ist." Die Verwendung von Placebos allein ist kein Heilmittel. Eine Review über 114 Studien der Dänen Asbjørn Hróbartsson und Peter Gøtzsche zeigt das deutlich. Wenn die Placebo-Gruppe mit einer Negativkontrolle, also einem bewussten Verzicht auf die aktuelle Behandlung, verglichen wird, verschwindet der Placebo-Effekt. Denn oft sorgt allein die Teilnahme an der Studie für einen Aufschwung. Studienprobanden sind häufig Patienten, denen es zur Zeit ihrer Einwilligung besonders schlecht geht.
Auch Placebo-Operationen sind nicht ungefährlich. Schon die Narkose trägt zum Operationsrisiko bei größeren Eingriffen bei. Je nach Größe des Schnitts kommt dazu noch die Infektionsgefahr. Wichtigstes Argument ist schließlich das Vertrauen zwischen Arzt und Patient. Der Einsatz von Placebos außerhalb wissenschaftlicher Studien ist so etwas wie eine Mogelpackung. Es ist Betrug am Patienten - sagen Ärzte und viele Medizin-Ethiker. Dennoch, Placebos haben auch in der Chirurgie weniger Nebenwirkungen und führen letztendlich zu einem Therapieerfolg.
Placebos aus der Apotheke
Die Einstellung von Ärzten zum Thema "Placebo" ist also durchaus zwiespältig. Eine aktuelle Umfrage unter amerikanischen Rheumatologen und Internisten ergab, dass rund die Hälfte ihren Patienten regelmäßig Placebos verschreiben. Sehr oft verwendeten sie dabei den Ausdruck "Die Medizin richtet sich nicht direkt gegen Ihre Krankheit, wird Ihnen aber helfen." Meist handelt es sich um Vitamine oder Analgetika, zuweilen aber auch Antibiotika, die unerwünschte Wirkungen haben könnten. Eine dänische Studie kam in einer ähnlichen Umfrage auf 86 Prozent placebo-verordnender Ärzte. Bei Studien erfährt nur etwa jeder zweite Teilnehmer, ob er zur Kontrollgruppe gehörte oder das Verum-Präparat bekam, berichtete Jos Kleijnen von der New York University schon 2002.
Die Diskussion, ob der Einsatz von Placebos im Operationssaal unethisch ist, wird sich wohl noch eine Weile hinziehen. Wichtig sei aber, so meint Hartwig Bauer, dass die Risiken bei einem "Schein-Eingriff" vernachlässigbar klein seien. Auch solle der Patient um mögliche Konsequenzen Bescheid wissen. Vorerst wird also Placebo-Chirurgie als Mittel für den Innovationstransfer wohl nur dann zum Einsatz kommen, wenn sich der Wert einer Operation anders nicht untersuchen lässt.