Mit Einführung des Gesundheitsfonds wird der Beitragssatz der Krankenkassen auf 15,5 Prozent festgesetzt. Das gilt als knapp bemessen. Tatsächlich könnte der Satz aber auch bei unter elf Prozent liegen – wenn der Staat zahlen würde, was des Staates ist.
Fritz Beske vom Institut für Gesundheits-System-Forschung (IGSF) in Kiel redet nicht gerne um den heißen Brei herum. Als er jetzt in Berlin die neue Untersuchung zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung seines renommierten Instituts der Öffentlichkeit präsentierte, kam er zügig zur Sache: „Durch politische Entscheidungen der letzten Jahre und Jahrzehnte wird die Gesetzliche Krankenversicherung nach heutigem Stand zur Entlastung anderer Sozialsysteme und des Staates mit 45,5 Milliarden Euro pro Jahr belastet“, so Beske.
Allein die Mitversicherung kostet zig Milliarden
Das sitzt. Wer sich im Gesundheitswesen auch nur ansatzweise auskennt, macht ganz automatisch die Überschlagsrechung Richtung Beitragssatz: Zehn Milliarden Euro sind ein Prozentpunkt, so die Faustregel. 45 Milliarden Euro sind demnach viereinhalb Prozentpunkte, die in Leistungen gehen, die nicht unmittelbar Versicherungsleistungen sind. Das ist fast jeder dritte Euro an Beitragsgeldern. „Würden diese Leistungen entfallen, könnte der Beitragssatz um 4,55 Beitragssatzpunkte, also von derzeit durchschnittlich 14,9 Prozent auf 10,35 Prozent, gesenkt werden“, so der Experte. Wer sich vergegenwärtigt, mit welcher Vehemenz die deutsche Politik seit rund zwanzig Jahren versucht, den Beitragssatz mit Verweis auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung unter Kontrolle zu halten, der kann sich angesichts dieses Betrags nur wundern. Denn das Entscheidende ist: Diese 45 Milliarden Euro pro Jahr, diese viereinhalb Beitragsprozente, sind politisch gemacht.
Versicherungsfremde Leistungen
Der Betrag setzt sich aus unterschiedlichen Positionen zusammen. Da ist einmal das, was seit vielen Jahren unter dem Stichwort versicherungsfremde Leistungen diskutiert wird. In diese Kategorie fallen unter anderem Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft. Das Mutterschaftsgeld gehört dazu, außerdem Vorsorge- und Rehabilitationsleistungen sowie Mittel für Empfängnisverhütung, Schwangerschaftsabbruch und Sterilisation außerhalb medizinischer Indikationen. Ein weiterer, sehr großer Brocken, den Beske nicht als klassische GKV-Leistung gelten lassen möchte, ist die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern. Dafür wendet die GKV immerhin 14 Milliarden Euro jährlich auf. Die beitragsfreie oder beitragsreduzierte Mitversicherung von Ehegatten beziehungsweise Partnern kostet weitere sieben bis neun Milliarden Euro jährlich.
Quersubventionierung ist eine Zumutung
Beitragsfreie Mitversicherung von Kindern und Ehegatten, Mutterschaftsleistungen: Beske ist völlig klar, dass die meisten Menschen kein Verständnis dafür hätten, wenn diese Aufwendungen gestrichen würden. Darum geht es ihm aber auch gar nicht. Es geht ihm nur um Gerechtigkeit, um die Feststellung, dass die GKV einen erheblichen Teil der Beitragsgelder für Sozialleistungen aufbringen muss, die der Staat beschlossen hat und die deswegen eigentlich aus dem Staatshaushalt finanziert werden müssten. „Keinem anderen Sozialversicherungssystem wird diese Art der Quersubventionierung zugemutet“, so Beske. Ganz besonders deutlich wird das bei einem anderen Kostenposten der GKV. Satte 4,7 Milliarden Euro bringen die Krankenkassen im Moment pro Jahr für die Empfänger von Arbeitslosengeld II auf („Hartz IV“). Dieser Betrag kommt dadurch zustande, dass die Politik den Krankenkassen pro ALG II-Empfänger 118 Euro im Monat an „Beiträgen“ aus dem Bundeshaushalt zugesteht. De facto fielen aber im Mittel 250 Euro an, so Beske. Auf der Differenz bleibe die GKV sitzen. „Das ist wirklich skandalös.“
Der Staat nimmt sich dezent aus der Schusslinie
Beskes Credo ist deswegen eindeutig: Gesamtgesellschaftliche Leistungen wie die beitragsfreie Mitversicherung sollten gesamtgesellschaftlich finanziert werden, also beispielsweise über Steuern und nicht über das GKV-Budget. Das ist nur auf den ersten Blick Jacke wie Hose. Denn indem der Staat Staatsausgaben auf die GKV abwälzt, muss sich die GKV plötzlich für einen Beitragssatz rechtfertigen, der den tatsächlichen Versicherungshaushalt gar nicht angemessen widerspiegelt. Auf der anderen Seite ist der Staat fein raus. Denn der müsste, wenn er Ausgaben beschließt, eigentlich entweder Steuern erhöhen oder sparsamer wirtschaften. Stattdessen hackt alle Welt auf der GKV rum. Auch für die Volkswirtschaft ist die Frage, wer die Kosten übernimmt, die der Staat beschließt, alles andere als irrelevant. Denn anders als der Steuersatz schlägt der Beitragssatz über die paritätische Finanzierung auf die Lohnnebenkosten durch.
Pillen statt Pornos!
Dass die Krankenkassen von den Daten des IGSF recht angetan sind, verwundert vor diesem Hintergrund nicht: „Ich kann diese Untersuchung nur begrüßen“, betonte Dr. Hans-Jürgen Ahrens, der Vorsitzende des AOK-Bundesverbands. Die Zahlen bestätigten, was viele Vertreter des GKV-Systems schon seit Langem sagten, so Ahrens. Auch Dr. Carl-Heinz Müller von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung sieht das so: „Von Ärzteseite sehen wir bei den ALG II-Empfängern, aber auch bei der Mehrwertsteuer auf Arzneimittel erhebliche Spielräume zur Entlastung der GKV“, so Müller. Letzteres ist ein weiterer Brocken in Beskes 45-Milliarden-Eintopf. In fast allen anderen europäischen Ländern nämlich wird auf Arzneimittel nur der halbe Mehrwertsteuersatz fällig. Auch hier kassiert der deutsche Staat also im Gesundheitswesen kräftig ab. Saftige vier Milliarden Euro an Einsparungen – aus Sicht des Staates: an Steuermindereinnahmen – würde eine Halbierung des Mehrwertsteuersatzes für die GKV bedeuten. Oder, um es mit Carl-Heinz Müller zu sagen: „Es ist schwer nachvollziehbar, dass in Deutschland für Arzneimittel der volle Mehrwertsteuersatz fällig wird, während für Pornohefte nur der halbe berechnet wird.“