Wer sich beim Risiko für Herz und Kreislauf allein auf Cholesterinwerte verlässt, hat schlechte Karten. Neue Studien mit überraschenden Ergebnissen zeigen, dass Medikamente für günstige HDL- und LDL-Spiegel nicht immer die Arteriosklerose aufhalten.
Jeder Medizinstudent lernt den Stoff schon früh in seinem Studium. Jeder Allgemeinarzt bestimmt anhand der Blutwerte das Risiko für Herzinfarkt oder Schlaganfall. Und wie in alten Westernfilmen gibt es die bösen Schurken und die guten Sheriffs. Mit Unterstützung von Medikamenten, die zu den umsatzstärksten der Welt gehören, schießt das gute HDL den Weg durch die Arterien frei. Dagegen blockiert LDL die Gefäße und führt direkt zum Infarkt.
ENHANCE: Niedrige LDL sind keine Herzversicherung
Bis vor einigen Jahren schienen die Rollen in diesem Drama festgelegt. Jetzt stellt sich heraus, dass es wohl noch mehr einflussreiche Mitspieler, Komplizen und Heckenschützen gibt. Noch in den 90er Jahren zeigten etliche große Studien, dass Statine das "schlechte" LDL senken und die Zahl der Herz-Kreislauf-Erkrankungen reduzieren. So weit so gut. In den folgenden Jahren kamen immer mehr Cholesterinsenker auf den Markt. Den Zulassungsbehörden genügte vielfach der Wirkungsnachweis für LDL, um dem neuen Mitspieler das "Go" zu geben.
Warum fordern aber Schlaganfall und Herzinfarkt auch unter denen viele Opfer, die Ihr Leben lang gute Cholesterinwerte hatten? Im Laufe dieses Jahres geben einige neue Studienergebnisse den Arterioskleroseforschern immer neue Rätsel auf. Ein Kombinationspräparat aus dem bewährten Simvastatin und dem Cholesterin-Aufnahme-Hemmer Ezetimib senkte zwar den LDL-Spiegel bei Patienten mit familiärer Hypercholesterinämie deutlich und besser als das Statin allein. Aber die ENHANCE-Studie zeigte auch: Das Kombipräparat reduziert die Bildung von Plaques deswegen nicht effektiver als die Therapie nur mit dem Statin. Eine weitere Studie des Kombinationspräparats veröffentlichte das New England Journal of Medicine im September dieses Jahres. Die neuen Daten belegen, dass ein deutlich gesenkter LDL-Spiegel nicht gegen das Fortschreiten einer Aortenstenose hilft. Das Krankheitsbild unterscheidet sich zwar von der Arteriosklerose, die beiden sind aber eng miteinander verknüpft, wie neuere Forschungen zeigen.
Torcetrapib: Mehr Opfer als Therapierte
Eine wirtschaftliche Katastrophe erlebte Pfizer bei einem seiner größten Hoffnungsträger: Torcetrapib. Der Wirkstoff hemmt das Cholesterylester Transfer Protein (CETP) und hebt dadurch den HDL-Spiegel. 2006 stoppte die Pharmafirma eine Phase III-Studie mit 15.000 Teilnehmern. Torcetrapib sorgt zwar für gute Cholesterinwerte, hält damit aber nicht die Arteriosklerose auf. Und viel schlimmer: Im Vergleich zum gebräuchlichsten Statin Atorvastatin starben im Verlauf der Studie 60 Prozent mehr Probanden. "Die Pille brachte mehr Menschen um als sie rettete.", beschreibt John Kastelein von der Universität Amsterdam die unerwünschten Nebenwirkungen. Es scheint also noch sehr viel mehr Mitspieler und mögliche Zielobjekte geben, will man die Bildung der gefährlichen Plaques unterbinden. Anne Tybjørg-Hansen vom Universitätsspital in Kopenhagen meint: "HDL ist ein 'Bystander', ein Lipdtransporter im Körper, aber ich glaube nicht, dass er etwas mit dem Risiko für Herzkrankheiten zu tun hat".
JUPITER: Statine senken CRP
Einer der neuen Akteure auf der Bühne ist CRP (C-reaktives Protein). Aktuelle Daten deuten darauf hin, dass der Faktor nicht nur bei Übergewicht und Diabetes mitspielt, sondern auch für verstopfte Gefäße sorgt. An Ansicht von Paul Ridker vom Brigham and Women's Hospital in Boston verhindert ein niedriger CRP-Spiegel, dass sich instabile Plaques ablösen. Vor einigen Tagen konnte er auf dem Amerikanischen Kardiologenkongress die These mit den Ergebnissen der "JUPITER"-Studie untermauern. Er und seine Kollegen in 26 Ländern untersuchten an 17.000 Teilnehmern, ob Statine auch Patienten mit normalen Cholesterin-, aber erhöhten CRP-Werten helfen. Merck brach die Studie im Frühjahr ab. Die Ergebnisse waren schon in der Zwischenauswertung eindeutig. Der Wirkstoff senkte die LDL-Spiegel um rund 50 Prozent auf Werte um 55mg/dl, die von CRP um 37 Prozent. Gegenüber der Placebo-Gruppe verringerte sich das Risiko für Myokard-Infarkt, Schlaganfall oder arterielle Revaskularisation um rund die Hälfte. Das Statin senkte auch die Mortalität deutlich.
Die Ergebnisse des Jahres 2008 deuten darauf hin, dass wir wohl am Ende der Zeiten stehen, in denen wir an HDL und LDL die Zukunft für Herz und Gefäße voraussagen konnten. Möglicherweise gehört der CRP-Test schon bald zum Routine-Check und neue Besen kehren unser Leitungssystem besser als die alten.