Ein früherer Hochschullehrer proklamiert die „Feminisierung der Medizin“ und fordert mehr Männer im Hörsaal. Studenten und Ärzte lehnen den Vorschlag vehement ab. Wichtiger wäre eine Quote für Ärztinnen in Führungspositionen.
„Verweiblicht“ die deutsche Ärzteschaft? Das behauptet zumindest Professor Dr. Jürgen Freyschmidt. Vor seiner Pensionierung hat er angehende Ärzte an der Medizinischen Hochschule Hannover ausgebildet.
Er schreibt zur Begründung, Abiturientinnen hätten bessere Abiturnoten als Abiturienten. Nur etwa 20 Prozent der Studienplätze werden anhand von Zensuren vergeben, 20 Prozent werden über ihre Wartezeit zugelassen und 60 Prozent über regionale Auswahlverfahren. „Man kann dennoch davon ausgehen, dass die große Mehrzahl der Studienplätze an Frauen vergeben wird“, so Freyschmidt. Im Jahr 2015 gab es laut Daten des Statistischen Bundesamts insgesamt 89.998 Medizinstudenten. Darunter waren 54.638 Frauen. Rund 65 Prozent aller Absolventen waren weiblich. Gerade Ärztinnen würden häufiger in Teilzeit arbeiten – die Work-Life-Balance sei laut Freyschmidt ein großes Thema. Dadurch verschlimmern sich regionale Versorgungsengpässe. Grund genug für den ehemaligen Hochschullehrer, zwei Alternativen aus dem Hut zu zaubern.
„Ich denke, dass eine Männerquote der falsche Ansatz wäre“, so Marlene Heckl. Das eigentliche Problem sieht die Medizinstudentin aus München im System. Ärzte und Pflegepersonal fehlen, und das werde „für die Gewinnmaximierung des Krankenhauses einfach so hingenommen“. Kollegen wünschen sich ebenfalls eine Work-Life-Balance, und der Bedarf an Teilzeitstellen wächst. Geregelte Arbeitszeiten sind für so manche Klink auch ein rotes Tuch. „Das ist aber kein Problem der Feminisierung des Studiengangs alleine, denn auch die männlichen Kollegen wollen meistens nicht nach dem alten Modell schuften, sondern rufen vermehrt nach einer Teilhabe am Familienleben und nach Freizeit für sich“, kommentiert Heckl. „Der Arztberuf ist im Wandel und das muss er auch, um langfristig für die jungen Leute attraktiv zu bleiben.“ Arbeitszeitmodelle seien kein Rückschritt, sondern – im Gegenteil – „ein längst überfälliger Schritt in der Medizin“. Ob sich psychologische Eignungstests oder Abiturnoten besser als Auswahlkriterium eignen, ist ein anderes Thema. Ganz gerecht werde die Sache nie ablaufen. „Statt das Geld in eine Umstrukturierung des Bewerbungsprozesses zu investieren, wäre es meiner Meinung nach viel besser in zusätzlichen Personalstellen für die Krankenhäuser aufgehoben, was nicht nur die Ärzte und Pflegekräfte entlasten würde, sondern indirekt auch den Patienten zugutekommen würde“, sagt die Medizinstudentin.
Daniel Wessling, Medizinstudent aus Tübingen, hält Quotenregelungen ebenfalls für falsch. „Ich sehe das Problem weniger darin, dass einige Frauen halbtags arbeiten oder in Elternzeit gehen, als eher darin, dass die Arbeitsbedingungen für Ärzte im Klinikalltag sehr bedenklich sind.“ Junge Kolleginnen oder Kollegen suchen ihr Glück eher in der freien Wirtschaft oder denken über Auslandstätigkeiten nach. „Dass man in Deutschland als Assistenzarzt auch mal 70 und mehr Wochenstunden absolvieren muss, liegt natürlich auch am Ärztemangel; der lässt sich aber nicht durch eine Männerquote, sondern durch bessere Grundvoraussetzungen für Assistenzärzte ändern“, lautet seine Einschätzung. Zu psychologischen Tests hat Wessling eine geteilte Meinung: „Einerseits ist die Idee, dass ein gewisses Maß an Empathie vorhanden sein sollte, gut. Andererseits erfordern unterschiedliche Fachbereiche der Medizin gefühlt unterschiedliche Charaktere.“ Doch was bringen die besten Eigenschaften, falls Ärzte später kaum Zeit für Patientengespräche oder für ein Privatleben haben. Wessling: „Aus Erfahrung kann ich bestätigen, dass das in den Nachbarländern Dänemark und Schweiz oft ganz anders aussieht.“ Die Lösung liege also nicht in Quoten, sondern in einem familienfreundlichen Arbeitsumfeld für junge Ärztinnen und Ärzte. „Wenn man von 7:30 bis 20:00 Uhr in der Klinik arbeitet, ist die Familiengründung schlichtweg nicht möglich.“
Zu ähnlichen Einschätzungen kommt die Medizinstudentin Naomi Lämmlin aus Freiburg: „Je länger ich studiere, je mehr Ärztinnen und Ärzte ich kennen lerne, desto stärker sehe ich, dass Familie und Karriere schwierig unter einen Hut zu bringen sind.“ Ganz besonders ausgeprägt sei dies in chirurgischen Disziplinen, ganz besonders in Kliniken, die Forschung als Freizeitspaß, als verpflichtenden Freizeitspaß sähen. „Sicherlich, ich habe auch Ausnahmen kennen gelernt: Hervorragende Chirurginnen, die nicht nur Familie haben, sondern diese auch viel sehen; Kliniken, die an Teilzeitkonzepten arbeiten, um als Arbeitgeber attraktiver zu sein“, ergänzt Lämmlin. Im Großen und Ganzen wurde sie durch ihre Erfahrungen abgeschreckt, in die Chirurgie zu gehen. Der Preis ist ihr zu hoch. „Ich persönlich möchte auch immer noch an einer Uniklinik meine Weiterbildung machen, parallel forschen und finde Teilzeitkonzepte bisher wenig interessant“, ergänzt die Studentin. „Sollte ich irgendwann eine Familie haben und merken, dass beides schwierig zu vereinbaren ist, würde ich mich sicherlich nach einem anderen Arbeitgeber umsehen oder tatsächlich über Niederlassung nachdenken.“ Jenseits verpflichtender Präsenzzeiten wünscht sie sich Home Office als Möglichkeit für patientenferne Arbeiten wie beispielsweise das Schreiben von Entlassungsbriefen. Von ihrem Vorschlag würden Frauen und Männer gleichermaßen profitieren.
Ob die Lebensziele von Ärztinnen und Ärzten derart stark voneinander abweichen, wie Jürgen Freyschmidt schreibt, ist ohnehin zweifelhaft. Bei einer aktuellen Befragung fand die apoBank jedenfalls keine signifikanten Unterschiede: Die Untersuchung zeigt auch, dass Frauen und Männern ihre Karriere wichtig ist. Sie haben jedoch unterschiedliche Chancen. „Der deutschlandweite Durchschnitt an Frauen in Führungspositionen in der Universitätsmedizin liegt gerade mal bei zehn Prozent. Oberärztinnen sind bundesweit in der universitären Medizin mit 31 Prozent vertreten“, sagt die Ärztin und Forscherin Professor Dr. Gabriele Kaczmarczyk. Sie hat „Medical Women on Top“ veröffentlicht. Kaczmarczyk weiter: „Dass nur sehr wenig Frauen auf Lehrstühlen, in Klinikdirektionen oder Abteilungsleitungen landen, ist einer breiten Öffentlichkeit bisher kaum bekannt. Ein weiterhin geringer Anstieg in den Führungspositionen wird erst nach Jahrzehnten zu einem ausgeglichenen Verhältnis von Männern und Frauen führen.“ Sie hält im Bereich von Chefetagen eine Quote für „zwingend notwendig“, bei Medizinstudenten aber für wenig zielführend. Seltsam.