Unter dem reißerischen Titel „Tatort Krankenhaus“ veröffentlichte Professor Karl H. Beine von der Universität Witten/Herdecke die Ergebnisse einer von ihm durchgeführten Studie. Demnach würden pro Jahr angeblich 21.000 Patienten durch die Hand eines Arztes oder Pflegers sterben.
Prof. Beine befragte im Herbst 2015 mehr als 5.000 Beschäftigte in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Demnach würden pro Jahr angeblich 21.000 Patienten durch die Hand eines Arztes oder Pflegers sterben. Ein Schrei des Entsetzens geht jetzt durch die Republik, nachdem der Professor seine Ergebnisse vorgestellt hat. Auf die zentrale Frage: „Haben Sie selbst schon einmal aktiv das Leiden von Patienten beendet?“ antworteten 3,4 Prozent der Ärzte mit „Ja“, ebenso 1,8 Prozent der Altenpfleger und 1,5 Prozent der Krankenpfleger. Beine ist Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke und Chefarzt am Marien-Hospital in Hamm, er gilt als Deutschlands bekanntester Experte für Patiententötung. Doch nun melden sich in allen Medien andere Experten zu Wort und zweifeln an seinen Ergebnissen. Zu Recht? Die Zahlen als einfach nur falsch und übertrieben abzutun, wäre zu kurz gegriffen. Es lohnt sich, genauer hinzusehen, denn die Sache hat zwei Seiten – wenn nicht gar drei.
Nicht alle die mit „Ja“ antworteten, haben sich im rechtlichen Sinne strafbar gemacht. Das lenkt auch Prof. Beine ein. Denn viele empfinden bestimmte medizinische Maßnahmen am Ende der Lebenszeit eines Patienten als aktive – und damit strafbare – Sterbehilfe, während es sich aus juristischer Sicht um passive und damit erlaubte Sterbehilfe handelt. Wird beispielsweise eine künstliche Ernährung oder Beatmung eingestellt, weil sich der Patient im offensichtlichen und unumkehrbaren Sterbeprozess befindet, so ist dies medizinisch indiziert. Denn wie Dr. Michael de Ridder, Chefarzt der Rettungsstelle vom Kreuzberger Urban-Krankenhaus in einem Interview sagte, hat der Arzt nicht die Aufgabe, das Sterben an sich zu verhindern. Er hat das vorzeitige Sterben zu verhindern durch kuratives Handeln. Genauso ist aber ärztliche Aufgabe, das qualvolle Sterben durch palliatives Handeln zu verhindern . So können – zugegeben plakativ – die Grundsätze der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung zusammengefasst werden. Für den Behandelnden ist es eine belastende Situation, wenn sich die Frage stellt, ob und wann der Zeitpunkt gekommen ist, an dem das kurative Therapieziel „Heilung“ aufgegeben und das palliative Ziel „Linderung der Symptome“ angepeilt werden sollte. Es ist nicht vermessen zu vermuten, dass viele der Ärzte und Pfleger, die in der Studie auf die Frage „Haben Sie selbst schon einmal aktiv das Leiden von Patienten beendet?“ mit „Ja“ antworteten, diese Situation des Therapiezielwechsels im Sinn hatten. Aber nicht nur, wenn sich der Patient im unumkehrbaren Sterbeprozess befindet, darf – ja muss – der Arzt so handeln. Er muss dies ebenso tun, wenn sich der Patient vielleicht noch nicht im unumkehrbaren Sterbeprozess befindet, er aber eine entsprechende Willenserklärung abgegeben hat. Hier sei erinnert an die Frau, die nach einem Unfall vom Hals abwärts gelähmt und infolge dessen auf künstliche Beatmung und ständige medizinische Betreuung und Pflege angewiesen war. Diese Frau hatte nach Einschätzung ihrer behandelnden Ärzte eine Lebenserwartung von etwa 15 Jahren, war also wahrlich nicht in der Nähe ihres Lebensendes angekommen. Sie hätte aber zweifelsfrei jederzeit die Beendigung der Beatmung verlangen können. Die Ärztin, der Pfleger, welche in solch einem Fall das terminale Weaning (S. 60 f der Leitlinie) veranlasst oder begleitet, macht sich nicht strafbar, empfindet dies aber häufig als „aktive Sterbehilfe“.
Die Medien berichten weltweit immer wieder von „Todesengeln“ oder auch weniger liebevoll von „Vollstreckern“. Dies sind Menschen, deren Aufgabe eigentlich darin besteht, Kranken und Alten zu helfen, die aber, statt zu helfen, bewusst töten. Das Motiv ist vielfältig. Getötet wird z.B. aus falsch verstandenem Mitleid, als Demonstration von Macht oder wegen Überforderung. Ein Pfleger aus Delmenhorst gestand, mindestens sechs Patienten bewusst getötet zu haben. Nicht erst in Delmenhorst, sondern schon früher auch in Oldenburg. Prof. Beine sieht als einen typischen Grund für dieses Handeln ein mangelndes Selbstwertgefühl, wie er in einem Interview sagte. Dazu erklärte er weiter: Ein Pfleger, der einmal tötete, wird dies wieder tun. In einem anderen Fall war der „Todesengel“ eine Krankenschwester, die arglosen Patienten heimlich Heparin in tödlicher Dosis in die Infusion mischte. Leider sind viele weitere Fälle bekannt. Während in der Regel bei Bekanntwerden solcher Taten von „Einzelfällen“ gesprochen wird, vermutet Prof. Beine hierin schon seit längerem ein systemisches Problem. Er ist sich sicher, die Einzelfall-Vermutung verharmlost ein generelles Problem. Tötungen im Krankenhaus und Pflegeheim sind von den dort Beschäftigten aufgrund deren Qualifikation leicht zu initiieren und zu verheimlichen. Natürlich auch, weil der Tod in diesen Institutionen Teil des Arbeitsalltags ist. Es wäre fatal, diese Behauptung in die Märchenwelt zu verbannen, einzig weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Fakt ist, dass die physische und psychische Belastung derer, die in Krankenhaus und Altenheim arbeiten, groß ist und aufgrund der gestiegenen ökonomischen Zwänge zunehmend größer wurde und wird. Alarmzeichen werden nicht gehört, weggewischt. Es ist durchaus denkbar, dass sich die Belastung alle möglichen Ventile sucht und findet. Ist es wirklich ausgeschlossen, dass Beschäftigte ein Ventil darin finden, den einen oder anderen alten/todkranken/hilflosen Menschen z.B. über eine Überdosierung geeigneter Medikamente sanft „entschlafen“ zu lassen? Das klingt friedlich, doch die vorsätzliche Tötung unter Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers führt immer wieder zu einer Verurteilung wegen Mordes. Jedoch ist das Mordmerkmal der „Heimtücke“ besonders „tückisch“. Die Juristen streiten, wann dies zu bejahen ist. Das hier detailliert auszuführen, würde aber zu weit gehen. Doch wie bereits zu Beginn des Artikels erwähnt, ist es fraglich, ob die nach der Studie hochgerechneten 21.000 getöteten Patienten alle Opfer solcher Tötungshandlungen sind.
Wo die Wahrheit liegt – ob näher beim Guten oder näher beim Grauen – das muss aufgeklärt werden. Immer nur Wegschauen ist garantiert der falsche Weg. Denn jeder, der sich in ein Krankenhaus oder Altenheim begibt, muss das Gefühl haben „Hier bin ich aufgehoben, hier wird mir geholfen“. Dieses Gefühl der Sicherheit verdient es, dass sich unsere Gesellschaft dieses ernsten und erschreckenden Themas annimmt. Aber nicht mit Hysterie, sondern mit der notwendigen Sorgfalt und Abgeklärtheit. Prof. Beine forscht seit über zwanzig Jahren zu Persönlichkeitsprofilen von Menschen, die im Krankenhaus zu Tätern werden. Seine Warnung sollte angemessen gehört werden. Bereits 2011 bezifferte er die Zahl der Menschen, die seit den Siebziger Jahren für Tötungen in Kliniken und Altenheimen verurteilt wurden, auf 37. Seither sind einige hinzu gekommen. Ob es eine Dunkelziffer gibt und wie hoch diese ist, sollte gefragt werden dürfen.