„Werner hat sich in die Hose gepinkelt. Der Gute muss aus dem Rolli auf den Toilettensitz gehievt werden. Ich mache alles sauber. Zum Glück gibt’s Gummihandschuhe...“ Dass das Arbeiten mit geistig Behinderten oft nicht leicht ist, beweist euch Michael – der ehemalige Busfahrer bei der Lebenshilfe.
Tagesablauf: Kochen, putzen, trösten, schleppen, reparieren.
Morgens komme ich um 7.30 Uhr zur Arbeit, mache mir einen starken Kaffee und warte auf meine zehn behinderten Mitarbeiter. Wenn alle da sind, fahre ich sie im Kleinbus in unsere Fördergruppe. Dort warten schon die Gruppenleiterin (DiplSozPäd) und die Praktikantin. Wir versorgen unsere Leute mit Handarbeiten, Brettspielen oder Haushaltstätigkeiten. Ich habe kurz Zeit für individuelle Förderung mit einem der behinderten Mitarbeiter – Puzzle bauen, basteln oder Lese- und Schreibübungen. Oder ich repariere was in der Küche oder am Bus, sorge für Ordnung, bereite Angebote vor, kaufe ein.
Halt, Werner hat sich in die Hose gepinkelt. Das kommt schon das zweite Mal vor in dieser Woche, und wir haben erst Mittwoch. Alles liegen und stehen lassen, ab ins Bad. Der Gute muss aus dem Rolli auf den Toilettensitz gehievt werden; zum Glück ist er spindeldürr, aber mein Kreuz schmerzt danach trotzdem. Ich mache alles sauber und ziehe ihm neue Klamotten an. Zum Glück gibt’s Gummihandschuhe.
Dann ist Vormittagspause, ich gebe Georg seine Brotzeit ein. Georg, auf gut bairisch „Schoos“, ist spastisch gelähmt und kann Arme und Beine fast nicht mehr rühren. Beißen kann er aber gut, und wenn ich nicht aufpasse, beißt er mich versehentlich in die Finger. Anschließend macht Georg Raucherpause. Ich stecke ihm die Zigarette in den Mund, und wir plaudern über Gott und die Welt. Nun, eigentlich geht es auch oft genug um Frauen oder den FC Bayern.
Nach der Pause leitet meine Chefin das pädagogische Gruppenangebot: Sport, Musik, Computer, tausend Dinge. Lieder wie „Blau blüht der Enzian“ und „Heidi, deine Welt sind die Berge“ kann ich bald auswendig. Unsere Mitarbeiter stehen halt auf so was. Dann geht’s ab zum Mittagessen, zurück ins Werksgebäude. Ich fahre und darf die Rasselbande bei Laune halten. Wenn ich laut zur Musik singe, johlt der ganze Bus. Ich sehe es pragmatisch: So hören sie auch mal Haindling, King Crimson oder Beethoven. Das „Tatata-Taa“ der Sinfonie Nr. 5 jedenfalls können einige wiedererkennen. Die Mittagspause ist schnell vorbei. Eine kostbare halbe Stunde, um sich mit den anderen Betreuern auszutauschen und einfach zu entspannen. Und am Nachmittag kommt ja die Parallelgruppe, die vormittags in der Werkstatt ist, da geht alles wieder von vorne los.
Geistig behindert, aber nicht blöd
Die „Lebenshilfe“ ist ein gemeinnütziger Verein, der sich um geistig Behinderte kümmert. Die „Deggendorfer Werkstätten“ sind ein ganz normaler marktwirtschaftlicher Industriebetrieb, der jedoch nach dem Konzept der Lebenshilfe ausgerichtet ist. Im Werk arbeiten geistig Behinderte. Sie werden von nichtbehinderten Gruppenleitern betreut, und eine Bürozentrale regelt das Geschäftliche und die Verwaltung. In jeder größeren Stadt gibt es einen entsprechenden Betrieb.
Ich arbeite hier nicht mit Buchenholz, „Homo faber“ oder Web 2.0, sondern mit Menschen. Sie geben mir ein besseres Feedback als jede Evaluation. Für meine angestrebte Tätigkeit als Mediziner fühle ich mich gut vorbereitet. Nicht unbedingt vom Fachlichen, das lerne ich noch früh genug. Doch ich habe Erfahrungen gemacht, die mir noch weiterhelfen werden: Ich weiß um die enge Verzahnung von Fachwissen und persönlicher Zuwendung. Ich habe Menschen geholfen, die es im Leben schwer haben – die Hilfe bestand nicht aus Gutmenschentum, Mitleid haben und Nachgeben, sondern aktiv werden, manchmal gegen den momentanen Willen der Betroffenen.
Und mein Dienst könnte auch noch fürs Fachliche gut sein: Im Gegenstandskatalog Humanmedizin habe ich zum Stichwort „Geistige Behinderung“ nur ein einziges freiwilliges Zusatz-Seminar gefunden, einsemestrig, läppische zwei Stunden die Woche. Da könnte ein noch unentdecktes Querschnittsthema auf mich warten. Vielleicht kann ich mir ja daraus einmal meinen Doktorhut schneidern.
Hier lernt man die Arbeit mit Menschen auf eine ganz andere Weise kennen als im Studium, Referendariat oder PJ. Das kann den Horizont erweitern und gelassener machen. Außerdem hat man seinen ersten Sprung ins kalte Wasser der Praxis schon hinter sich. Schließlich lernt man, wie faszinierend unperfekt die Menschen sind. Und dass die Mischung aus Gemeinsamkeiten und Unterschieden es ist, was die Arbeit mit und an ihnen so spannend macht.