Im Supermarkt animiert sie uns zum Kaufen, beim Joggen zum Durchhalten. Musik gehört zu unserem Alltag. Und sie kann mehr: Im OP unterstützt sie Anästhesisten, Hypertoniker "hören" sich fit und Schlaganfallpatienten werden mit Musik an alte Fähigkeiten zurückgeführt.
Wie sehr Musik den Menschen beeinflusst, hat vor kurzem eine schwedische Forschergruppe unter Patrik Juslin von der Universität Uppsala untersucht. Zwei Wochen lang beobachtete sie 32 Studenten und ließ sie ihre Gefühle und ihre Alltagssituation protokollieren - auf einem Handcomputer sieben mal am Tag. Mehr als ein Drittel der aufgenommenen Zeit verbrachten die Studenten mit dem Hören von Musik. Überwiegend regten sie die Beats zu Freude, Sehnsucht und anderen positiven Gefühlen an. Angst, Ärger oder Langeweile empfanden die Getesteten eher ohne die harmonische Beschallung.
Chill-Musik wirkt wie Drogen
Je nach Charakter des Zuhörers oder Erfahrungen beim Musikhören aktiviert eine Melodie andere Gehirnbereiche. So kompensiert erregende Musik etwa Müdigkeit, tröstet bei Liebeskummer oder weckt den Dirigenten oder Musiker in sich. Etwa eine halbe Sekunde nachdem der Schall das Ohr erreicht und das Gehirn Klangfarbe und Intervalle analysiert hat, verbindet es Gedächtnisinformationen mit dem Gehörten. Musik spricht mehr als die meisten anderen Sinneseindrücke verschiedenste Areale des Gehirns an. Wie Musikforscher Stefan Koelsch von der englischen Universität Sussex herausfand, verstehen Menschen manche Tonfolgen wie gesprochene Worte oder gar Sätze. So bringt etwa der Durchschnittshörer das wohltemperierte Klavier von Bach gut mit dem Wort "Fluss" zusammen, schrille spitze Akkorde mit Kälte und Eis. Vermischt man dagegen "Nadelstiche" im Wort mit harmonischen Akkorden, aktiviert die unlogische Verknüpfung Aufmerksamkeitszentren im Gehirn infolge des Überraschungseffekts.
Mitunter erzeugt Musik "Chill-Effekte" - Gänsehautgefühl beim Zuhören. Sie sind das Forschungsgebiet von Eckart Altenmüller vom Institut für Musikphysiologie und Musikermedizin in Hannover. Bei rund 70 Prozent aller Menschen ruft Musik starke Emotionen hervor: Musikalische Chills wirken so stark wie Ecstasy oder sexuelle Höhepunkte, fanden die Kanadier Anne Blood und Robert Zatorre von der Universität Montreal heraus. Gerade bei Jugendlichen, bei denen das Stammhirn noch nicht völlig ausgereift sei, so der Neuropsychologe Lutz Jäncke aus Zürich, könnten sich solche Gefühle oft ungehindert Luft verschaffen. Ganz automatisch verknüpfen die Zuhörer sie mit der Person, von der die Musik stammt. Daher bringt "Tokio Hotel" immer wieder Teenager zum Ausflippen.
Unmusikalität gibt es nicht
Vor etwa 35.000 Jahren, so schätzen Wissenschaftler, haben Menschen zum ersten mal Musik gemacht. Fünftönige Flöten erzeugten schon Harmonien, wie sie heute noch in Kinderliedern vorkommen. Harmonische Musik fördert soziale Bindungen, indem es bei Männern den Testosteronspiegel senkt und ihn bei Frauen anhebt. Entspannende Musik regt auch zur Ausschüttung von Oxytocin an, einem Hormon, das mit Zuneigung und Liebe in Zusammenhang gebracht wird. Überall auf der Welt singen Mütter ihren Kindern zum Spielen vor - rhythmisch und hoch. Zum Einschlafen wechseln sie dann zu tieferen Tonlagen und langsameren Tempi. So ist es auch nicht erstaunlich, dass fast alle Menschen einen Sinn für Musik haben, auch jene, die sich unmusikalisch halten. Aus der eigenen Praxis berichtet Stefan Koelsch von erstaunten Probanden, wenn die vermeintlich Unmusikalischen sehen, wie sie auf harmonische oder dissonante Stimuli reagieren.
Musik gegen Bluthochdruck und nach dem Schlaganfall
Musik ist somit auch ein Weg für Therapeuten, um gestörte neuronale Funktionen wieder zu reaktivieren. Eine finnische Gruppe bewies das bei Schlaganfall-Patienten. Wenn die Rehabilitation regelmäßigen Musikgenuss nach eigenem Gusto einschloss, besserten sich beispielsweise verbale Erkennung und Aufmerksamkeit wesentlich mehr als in den Kontrollgruppen, die Hörbüchern lauschte oder nur konservativ behandelt wurde. Auch auf den Gemütszustand hatte die tägliche Stunde mit der Lieblingsmusik einen positiven Einfluss: sie verhinderte Depressionen und Bewusstseinsstörungen. Schon frühere Untersuchungen zeigten: Patienten mit Sprachverlust können ihre Wünsche zuerst leichter mit Gesang als mit Sprache ausdrücken.
Untersuchungen von Vera Brandes von der Paracelsus Universität Salzburg weisen auf weitere andere therapeutische Effekte hin. So bewirkte täglicher Musikgenuss bei Hypertonikern, dass sich ihre Herzfrequenz-Variabilität (HFV) verdoppelte und damit dem Infarkt vorbeugt. Der HFV-Wert nimmt mit zunehmendem Alter immer weiter ab. Mitautor Julian Thayer veranschaulicht das Ergebnis: "Die Steigerung der Herzfrequenz-Variabilität durch Musiktherapie entspricht dem Wert, den ein gesunder Mensch in einem Lebensjahrzehnt verliert. Man könnte also sagen, durch diese Musik wird das Herz zehn Jahre jünger."
Schließlich bewirken die Klänge auch Veränderungen im Schmerzzentrum. Mit diesen Erkenntnissen bieten die Ärzte Ihren Patienten in der Sportklinik Hellersen in Lüdenscheid ihre Lieblingsmusik im OP-Saal an. Sie entspannt die Patienten und senkt den Bedarf an Schmerz- und Beruhigungsmittel. So könnte auf dem Fragebogen vor Operationen zukünftig vielleicht stehen: Mick Jagger oder Mozart?