4,5 Millionen Deutsche sind 80 Jahre alt oder älter. Doch unser Gesundheitssystem ist auf diese Menschen nicht gut vorbereitet, so fehlt es beispielsweise an Leitlinien für diese Altersgruppe. Als Behandlungsziel steht nicht immer die Heilung an erster Stelle.
Ein „biblisches“ Lebensalter zu erreichen, ist in Deutschland und Europa nichts Ungewöhnliches mehr. Zur Zeit sind etwa 4,5 Millionen Menschen in Deutschland 80 Jahre oder älter – das sind 5,4 Prozent der Bevölkerung. Und die Anzahl sehr alter Menschen – über 90 oder über 100 Jahre alt – steigt immer weiter an. Was zunächst erfreulich klingt, ist jedoch ein zweischneidiges Schwert. Im hohen Lebensalter steigt die Wahrscheinlichkeit chronisch oder mehrfach erkrankt zu sein, eine Vielzahl von Medikamenten einzunehmen, auf technische Hilfsmittel oder die Unterstützung anderer Menschen angewiesen zu sein und irgendwann pflegebedürftig zu werden. Mehrere Studien haben sich nun damit befasst, wie es um die Lebenserwartung und die Fähigkeiten der über 80-Jährigen bestellt ist. So zeigen zwei Studien aus Dänemark und Großbritannien, dass sowohl die Lebenserwartung, als auch die kognitive Leistungsfähigkeit, die Bewältigung alltäglicher Aufgaben sowie die Einschätzung der eigenen Gesundheit bei später geborenen Hochbetagten höher sind als in einer früher geborenen Kohorte. Dagegen unterschied sich die körperliche Leistungsfähigkeit (Ganggeschwindigkeit, Aufstehen von einem Stuhl) nicht zwischen den früher und später geborenen Gruppen. „Insgesamt zeigt die Evidenz in industrialisierten Ländern, dass Menschen über 80 Jahre von Generation zu Generation gesünder sind und länger ein unabhängiges Leben führen können“, sagt Ursula M. Staudinger, Alternsforscherin an der Columbia University in New York und Vizepräsidentin der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. „Darüber hinaus sind ihre kognitiven Fähigkeiten besser und die Prävalenz von Demenzen geringer als in früheren Generationen.“
Auch eine aktuelle Studie mit Teilnehmern aus China kommt zu dem Ergebnis, dass die Sterblichkeit und die Einschränkung bei Alltagsfähigkeiten bei später geborenen Hochbetagten (zwischen 80 und 105 Jahren) geringer sind als in einer zehn Jahre früher geborenen Kohorte. Allerdings waren die mit objektiven Tests erfassten körperlichen Fähigkeiten (etwa, von einem Stuhl aufzustehen) sowie die kognitiven Fähigkeiten bei den später Geborenen geringer als in der früheren Generation. „Es könnte sein, dass eine längere Lebensspanne auch mit stärkeren Einschränkungen der körperlichen und kognitiven Funktionsfähigkeit einhergeht“, schreiben die Autoren um Yi Zeng von der Medical School of Duke University in Durham (USA). Allerdings könnten auch schwierige Bedingungen in der Kindheit und ein geringeres Bildungsniveau zu den geringeren kognitiven Leistungen der späteren Generation beigetragen haben. Dagegen könnte ein verbessertes Krankheitsmanagment in China dazu geführt haben, dass später geborene Hochbetagte ihren Alltag länger selbst bewältigen können, so die Forscher. „Eine erhöhte Lebenserwartung geht nicht unbedingt mit einer besseren Gesundheit einher“, folgern Olga Theou und Kenneth Rockwood von der Dalhousie University in Halifax (Kanada) in einem Kommentar zur Studie. So kommt auch eine schwedische Untersuchung zum Ergebnis, dass in einer später geborenen Generation sehr alte Menschen zwar das Sterberisiko geringer ist, die Gebrechlichkeit aber ebenso hoch wie in einer früheren Generation. „Eine Verschlechterung der Mobilität bei später geborenen Generationen könnte damit zusammenhängen, dass körperliche Aktivität in unserem modernen Lebensstil eine geringere Rolle spielt“, erläutert Staudinger. Aber gerade der altersbedingte Abbau der Skelettmuskulatur (Sarkopenie) trage häufig stark zu einer erhöhten Gebrechlichkeit bei.
Dass auch der Bedarf an medizinischer Versorgung durch die zunehmende Zahl sehr alter Menschen stark ansteigt, macht eine Untersuchung aus Portugal deutlich: Sie zeigt, dass die Zahl der Krankenhausaufnahmen der über 80-Jährigen zwischen 2000 und 2014 signifikant angestiegen ist. Die häufigsten Gründe für die Aufnahme waren Lungenentzündungen, akute Störungen der Gehirndurchblutung (zerebrovaskuläre Störungen) und Herzversagen. Als Komorbiditäten wurden am häufigsten Diabetes und Herzinsuffizienz beobachtet. „Die Studien machen deutlich, dass sich das Gesundheitssystem in Zukunft zunehmend auf die Bedürfnisse sehr alter Menschen einstellen muss“, so Theou und Rockwood. Neben der akuten und langfristigen medizinischen Versorgung seien hier Hilfsmittel zur Gewährleitung der Mobilität wichtig, betonen Yi Zeng und sein Team. Auch präventive Maßnahmen, die altersbedingte Einschränkungen hinauszögern können, seien von großer Bedeutung. „Um die körperliche Leistungsfähigkeit zu erhalten, sollte Bewegung wieder ein normaler Bestandteil des Alltags werden“, sagt Staudinger. „Wichtig sind auch gezielte Übungen, die einem altersbedingten Muskelabbau entgegenwirken.“ Um geistig und körperlich fit zu bleiben, sollten auch Hochbetagte so lange wie möglich aktiv am Leben teilnehmen und sich jeden Tag eine neue Herausforderung suchen, so die Forscherin. „Das kann ein Teilzeitjob, ein Ehrenamt, ein Hobby oder die Betreuung der Enkelkinder sein.“
In ihrer Stellungnahme „Medizinische Versorgung im Alter – welche Evidenz brauchen wir?“ haben sich 15 Wissenschaftler der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und zweier weiterer Fachakademien damit auseinandergesetzt, welche Veränderungen im Gesundheitssystem für eine bestmögliche Versorgung sehr alter Menschen notwendig sind. „Häufig wird Wissen, das an Menschen im mittleren Alter gewonnen wird, auf alte Patientinnen und Patienten übertragen – obwohl diese sich körperlich und geistig, in ihren medizinischen Versorgungsprinzipien und Lebensumständen von Jüngeren unterscheiden“, kritisieren die Forscher. In Zukunft sollten alte und sehr alte Menschen mit ihren Besonderheiten daher in allen Bereichen der medizinischen Versorgung gezielt in den Blick genommen werden. So seien Hochbetagte häufig mehrfach erkrankt (Multimorbidität) und würden eine Reihe von Medikamenten einnehmen – es gäbe jedoch kaum Studien zum geeignetsten Vorgehen bei Mehrfacherkrankungen oder zu Nutzen und Risiken einer polypharmazeutischen Behandlung. „Die Zulassung von Arzneimitteln sollte, ähnlich wie bei Kindern üblich, an die Durchführung von Studien mit alten und sehr alten Patientinnen und Patienten geknüpft werden“, heißt es in der Stellungnahme. Auch der Nutzen von technischen Hilfsmitteln oder einer Anpassung des Wohnraums, um die Selbständigkeit alter Menschen möglichst lange zu erhalten, seien bisher kaum untersucht. Hier seien dringend randomisiert-kontrollierte Studien notwendig – und ihre Ergebnisse sollten die Grundlage für evidenzbasierte Behandlungsleitlinien bilden.
Auch Ärzte und Pflegende müssen in Zukunft zunehmend auf die Versorgung der über 80-Jährigen vorbereitet sein. „Dies sollte verstärkt in der Aus-, Fort- und Weiterbildungen von Ärzten und Pflegepersonal Berücksichtigung finden“, betont Staudinger. „Weiterhin ist eine ganzheitliche medizinische Versorgung wichtig, bei der Hausarzt, Fachärzte, Krankenhauspersonal und Pflegekräfte eng zusammenarbeiten und bei der verschiedene organische, kognitive und soziale Aspekte ganzheitlich in den Blick genommen werden.“ Ein solches Vorgehen könne dazu beitragen, unerwünschte Nebenwirkungen medizinischer Maßnahmen zu verringern oder auch die Zahl der verordneten Medikamente zu reduzieren. „Weiterhin kommt psychologischer Unterstützung eine besondere Rolle bei der Bewältigung des Alltags mit chronischen Erkrankungen zu“, heißt es in der Stellungnahme der Leopoldina.
Von großer Bedeutung sei, die Behandlungsziele bei hochbetagten Menschen nicht nur unter herkömmlichen Aspekten wie Heilung und Erhöhung der Überlebenszeit zu betrachten, so der Bericht. In dieser Altersgruppe könne es sinnvoll sein, andere Behandlungsziele in den Vordergrund zu stellen, etwa eine möglichst lange Teilhabe an alltäglichen bzw. sozialen Aktivitäten, eine kurzfristige Linderung der Symptome und insbesondere die Lebensqualität der Patienten. Methoden zur Erfassung der Lebensqualität sollten deshalb gezielt weiterentwickelt werden. Schließlich sollten sich Ärzte oder Pflegende mit den Patienten rechtzeitig über ihre Gesundheitsziele und die Gestaltung ihres letzten Lebensabschnitts verständigen – etwa mithilfe des „Advance Care Planning“ (ACP). Auf diese Weise können alte Menschen beispielsweise frühzeitig entscheiden, in welcher Umgebung sie alt werden möchten oder welche medizinischen Maßnahmen noch durchgeführt werden sollen und welche nicht.