Gedacht haben wir es schon immer: Nach dem 24-Stunden-Dienst mit hängenden Lidern in der Frühbesprechung herum zu lallen kann nicht gesund sein. Jetzt gibt es Daten, die wissenschaftlich untermauern, warum Schichtdienst-Ärzte wahrscheinlich früher sterben.
Mehrere Millionen Schichtarbeiter gibt es in Deutschland. Sie tummeln sich in großen Fabriken, bei der Polizei, in Druckereien oder beim Wachdienst. Und sie kommen aus dem Gesundheitswesen, wo Ärzte und Krankenpflegepersonal in Kliniken regelmäßig Wache schieben, um Patienten zu versorgen, deren gesundheitliche Probleme sich partout nicht an die Ladenöffnungszeiten halten wollen.
Forscher simulieren Schichtarbeit im Zwielicht der Labore
Nine-to-five-Epidemiologen interessieren sich schon länger für die fremde Spezies des Schichtarbeiters. Sie haben aufwändige Tabellen angelegt, aus denen hervorgeht, dass Schichtarbeit mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Leiden einhergehen könnte. Weil Schichtarbeit allerdings nicht gleichmäßig über die sozialen Gruppierungen verteilt ist, waren diese Daten immer etwas mit Vorsicht zu genießen. Jetzt haben sich Wissenschaftler der Harvard Medical School des Themas nicht in epidemiologischer, sondern in experimenteller Manier angenommen. Sie berichten darüber in der Early Edition der Zeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences (DOI 10.1073/pnas.0808180106). Um gewissermaßen live zu beobachten, was bei einem Schichtarbeiter metabolisch passiert, haben sie zehn Probanden zehn Tage lang im Labor einem simulierten Schichtdienst ausgesetzt. Dabei durchlebten die Teilnehmer bei konstant gedimmtem Licht insgesamt sieben 28-Stunden-Tage in Folge. Das führte dazu, dass sich der Schlaf-Wach-Rhythmus einmal im Kreis drehte: Die Einschlafzeit verschob sich täglich um einige Stunden nach hinten, um am Ende des Protokoll wieder dort zu liegen, wo sie vorher lag, bei etwa 24 Uhr.
Wer schichtet wird zum Metaboliker
Im Gegensatz zu anderen Untersuchungen mit ähnlichen Fragestellungen achteten die Wissenschaftler um Frank Scheer präzise auf die Nahrungsaufnahme: Pro 28-Stunden-Tag waren exakt vier Mahlzeiten mit jeweils gleichem Kaloriengehalt erlaubt, was eine bessere Beurteilung vor allem des Zuckerstoffwechsels erlaubte. Und der hatte es in sich: Die Ergebnisse der Bostoner Forscher lesen sich ähnlich deprimierend wie das Laborwerte-Kapitel aus einem Lehrbuch zum metabolischen Syndrom. Vor allem in jenen Teilen des 10-Tage-Protokolls, in denen der Tag-Nacht-Rhythmus der Probanden um rund zwölf Stunden verschoben war, war an Blutwerten und sonstigen kardiovaskulären Parametern so ziemlich alles auffällig, was kardiometabolisch ungesund ist. Die Level des „Schlankmacher-Hormons“ Leptin etwa fielen um ein Fünftel ab. Trotz einer ebenfalls um rund ein Fünftel gesteigerten Insulinsekretion waren die postprandialen Glukose-Spiegel um signifikante sechs Prozent höher. Die zirkadiane Rhythmik in der Kortisolsekretion drehte sich um. Und der mittlere arterielle Druck stieg signifikant an. „Bemerkenswerterweise lag die postprandiale Glukoseantwort bei drei von acht Probanden mit ausreichender Datenlage im Bereich des Prädiabetes“, so Scheer. Vorher und nachher war das nicht so. Das allein zeige deutlich die ungünstigen kardiovaskulären Auswirkungen einer Verschiebung des Tag-Nacht-Rhythmus, so die Autoren.
Ist das Leptin die Ursache allen Übels?
Weil die erhobenen Daten sehr umfangreich sind, lassen sie auch Hypothesen über den Mechanismus zu, über den Schichtarbeit das kardiometabolische Gleichgewicht durcheinander bringt. So korrelierten die abnorm hohen Kortisolspiegel am Ende der Wachperioden mit größerer Insulinresistenz und postprandialer Hyperglykämie. Die prodiabetischen Effekte von Schichtdienst könnten damit über die hormonelle Stressachse vermittelt sein. Auf der anderen Seite könnte der deutlich verringerte Leptin-Spiegel über eine Stimulation des Appetits und eine Verringerung des Grundumsatzes zu einer diabetischen Stoffwechsellage und langfristig sogar zur Entstehung einer Adipositas beitragen. Möglicherweise steht das im Fettgewebe produzierte Leptin sogar am Anfang aller Probleme: „Den Abfall beim Leptin können wir mit den Variablen, die den Leptin-Spiegel üblicherweise beeinflussen, nicht zufriedenstellend erklären“, so Scheer. Die Wissenschaftler stellen deswegen die Hypothese auf, dass der gestörte Schlaf-Wach-Rhythmus auf noch unklaren Wegen ziemlich unmittelbar den Leptin-Spiegel absenkt. Hier soll jetzt weitere Forschung ansetzen.