Es gibt Menschen, die das starke Bedürfnis haben, behindert zu sein: Sie wünschen sich, ohne ihr Bein zu leben, gelähmt, blind oder taub zu sein. Studien deuten darauf hin, dass Veränderungen im Gehirn eine Rolle spielen. Wie können Ärzte mit den Betroffenen umgehen?
Für die meisten Menschen ist es nur schwer vorstellbar: Jemand, der einen vollständig gesunden Körper hat, wünscht sich, ein Bein oder einen Arm amputiert zu bekommen, gelähmt im Rollstuhl zu sitzen, gehörlos oder blind zu sein. Manche binden sich einen Arm auf den Rücken, benutzen Prothesen, verbinden sich die Augen oder verbringen die meiste Zeit im Rollstuhl – mit dem Ziel, dem Zustand ihres Körpers, den sie als „richtig“ empfinden, ein Stück weit näher zu kommen. Typische Aussagen der Betroffenen sind zum Beispiel: „Ich fühle mich vollständig ohne mein linkes Bein. Mit ihm bin ich ‚übervollständig‘“ oder: „Wenn es stockdunkel ist, komme ich dem Leben, wie es für mich sein sollte, am nächsten.“ Unter Fachleuten wird die Störung als „Body Integrity Identity Disorder“ (BIID), als Xenomelie oder allgemein als „Wunsch nach Behinderung“ bezeichnet. Mit BIID ist eher ein psychiatrisches Störungsbild gemeint, „Xenomelie“ bezieht sich vor allem auf „das bedrückende Gefühl, dass eine Gliedmaße nicht zum eigenen Körper gehört“. Nach den vorläufigen Definitionskriterien bezeichnet BIID den langjährigen, intensiven Wunsch nach Amputation einer Gliedmaße, der mit einem hohem Leidensdruck einhergeht. Der Wunsch entsteht durch die Überzeugung, dass der reale Körper nicht dem subjektiv als „richtig“ empfundenen Körper entspricht. Darüber hinaus müssen andere Erkrankungen wie Psychosen oder zwanghafte Selbstverletzung ausgeschlossen sein. Zur Häufigkeit der Störung gibt es bisher keine genauen Zahlen. Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass mehrere tausend Menschen weltweit betroffen sind. Auch über Ursachen und wirksame Therapieansätze ist bisher wenig bekannt. Noch weniger weiß man über die Hintergründe des Wunsches nach anderen körperlichen Einschränkungen – etwa, blind oder taub zu sein. Bisher gibt es lediglich eine Studie, die Menschen mit dem Wunsch nach Erblindung unter klinischen Gesichtspunkten beschreibt.
Seit einigen Jahren befasst sich nun ein Forscherteam um Peter Brugger von der Universität Zürich detaillierter mit dem Störungsbild Xenomelie. In einer Review kamen die Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass 90 Prozent der Betroffenen Männer sind. Das nicht akzeptierte Körperteil betrifft dabei in 80 Prozent der Fälle die Beine und häufiger die linke als die rechte Körperseite. Weiterhin entstehen die ablehnenden Gefühle gegenüber einer eigenen Gliedmaße meist schon in der Kindheit oder Jugend. Die Betroffenen sind überzufällig häufig nicht heterosexuell und empfinden häufig eine erotische Anziehung zu Menschen mit Amputationen. Diese Zusammenhänge legen nahe, dass die Störung mit anatomischen Gegebenheiten im Gehirn zu tun hat: So ist vor allem die rechte Gehirnhälfte für die Körperwahrnehmung und die Entstehung des Körperbildes von Bedeutung – was erklären könnte, dass die linke Körperseite häufiger vom Amputationswunsch betroffen ist. Ähnlich könnte die Tatsache, dass Gehirnregionen für die Sinnesempfindung des Beines und der Sexualorgane nah beieinander liegen, den Zusammenhang des Amputationswunsches mit erotischen Vorstellungen erklären.
Brugger und seine Kollegen nehmen an, dass Xenomelie durch das Zusammenwirken neurologischer, psychologischer und sozialer Faktoren entsteht. So lassen Studien vermuten, dass Veränderungen in der Struktur und Funktion des Gehirns zu einem veränderten Körperbild beitragen, bei dem ein Körperteil als „überflüssig“ empfunden wird. Auf der anderen Seite könnten Erfahrungen in der Kindheit zu dem Wunsch, selbst amputiert zu sein, beitragen: Etwa der Kontakt mit einem Menschen, dem eine Gliedmaße amputiert wurde, zusammen mit einer übermäßigen empathischen (einfühlenden) Reaktion. So berichten viele Xenomelie-Betroffene von einer einschneidenden Begegnung mit einem Amputierten in ihrer Kindheit. In einer aktuellen Studie untersuchten die Wissenschaftler um Brugger die neuronalen Zusammenhänge der Störung genauer. Dazu analysierten sie mit einer Kombination aus der so genannten Diffusions-Tensor-Bildgebung (DTI) und funktioneller Magnet-Resonanz-Tomographie (fMRT) Veränderungen in der Struktur und Funktionalität des Gehirns bei 13 Männern mit Xenomelie im Vergleich zu einer Kontrollgruppe. Dabei stellte sich heraus, dass ein Netzwerk von Nervenzellverbindungen in der rechten Gehirnhälfte bei Probanden mit Xenomelie deutlich stärkere Verbindungen aufweist als in der Kontrollgruppe. Dieses umfasst Regionen, die für die Empfindung und die Bewegung von Gliedmaßen zuständig sind – insbesondere der Gliedmaße, die vom Amputationwunsch betroffen war. „Darüber hinaus zeigen diese und weitere unabhängige Studien, dass bei Xenomelie Regionen im Gehirn verändert sind, die für das Körpergefühl – das Erleben des Körpers als Ganzes – verantwortlich sind“, berichtet Brugger. Bisher könne nur vermutet werden, wie diese Besonderheiten im Gehirn zu den Symptomen der Xenomelie beitragen, so die Forscher. „Wir vermuten, dass die erhöhte Verbindungsstärke zwischen den Nervenzellen mit einer erhöhten Aufmerksamkeit für bestimmteKörperteile und einem Gefühl der ‚Über-Vollständigkeit‘ einhergeht, die dann bei manchen Menschen zu dem Wunsch nach Amputation eines gesunden Körperteils führen.“
Doch wie können Ärzte in der Praxis damit umgehen, wenn ein Patient den Wunsch nach Amputation eines Beines oder Armes äußert? Wie können sie BIID erkennen? Und wie können sie die Betroffenen am besten unterstützen? Zunächst einmal: Ärzte werden nur selten mit BIID konfrontiert. Die Störung kommt nicht häufig vor – und auch ein erfahrener Arzt kann sie nur erkennen, wenn der Patient selbst von seinem Amputationswunsch berichtet. „Verletzungsspuren am Arm oder Bein weisen dagegen kaum auf eine Xenomelie hin“, erläutert Peter Brugger. „Diese sollte nicht mit selbstverletzendem Verhalten verwechselt werden.“ Wie eine geeignete Behandlung aussehen könnte, die den starken Leidensdruck auf Dauer reduziert, ist bisher unklar. „Es ist auf jeden Fall nicht falsch, zunächst eine Psychotherapie zu empfehlen“, sagt der Forscher. „Sie kann helfen, besser mit dem Wunsch nach einer Amputation umzugehen, den Leidensdruck der Betroffenen zu reduzieren und eine eventuell vorhandene Depression zu lindern.“ Allerdings verändert sich der Wunsch nach Amputation nach bisherigen Erfahrungen durch die Therapie kaum. „Empfehlenswert ist weiterhin das Bereitstellen von Links zu Internetseiten anderer Xenomelie-Betroffener“, betont Brugger. „Ein Austausch untereinander kann oft helfen, das eigene Leiden besser im Griff zu haben.“
Ob die Durchführung einer Amputation eine geeignete Behandlungsstrategie sein könnte, wird aus ethischer Sicht kontrovers diskutiert. Von den Betroffenen selbst wird dies immer wieder gefordert – und vereinzelt wurden solche Operationen bereits von Ärzten in verschiedenen Ländern durchgeführt. „Die Befürworter führen an, dass in der modernen Medizin auch in anderen Fällen voll funktionstüchtige Organe beschnitten werden – etwa in der Schönheitschirurgie oder bei Geschlechtsumwandlungen“, sagt Brugger. „Außerdem wird argumentiert, dass der Patient ein Recht auf Selbstbestimmung hat. Gegner dieses Vorgehens sind dagegen der Meinung, dass zunächst versucht werden sollte, den Amputationswunsch durch eine geeignete Therapie zu verändern.“ Einzelne Berichte von BIID-Betroffenen, die eine Amputation realisieren konnten, geben erste Anhaltspunkte auf die Folgen einer Operation: So führte die Amputation in einer Studie bei allen der 21 Befragten zu einer anhaltenden Verbesserung der Lebensqualität. Allerdings wird auch über Fälle berichtet, bei denen sich der Amputationswunsch nach einer lang ersehnten Amputation auf einen anderen Körperteil übertrug. „Es sind daher dringend weitere Studien notwendig, um mehr über die langfristigen Auswirkungen einer Amputation zu erfahren“, betont Brugger.
Weil Menschen mit BIID nur schwer einen Behandler finden, der ihren Wunsch nach Amputation erfüllt, greifen einige von ihnen auch zur „Selbsthilfe“ – mit zum Teil lebensgefährlichen Folgen. Um die Gliedmaße „loszuwerden“ oder eine Amputation zu erzwingen, fügen sie sich Unterkühlungen oder schwere Verletzungen zu. Wie mit solchen schwer verletzten BIID-Patienten umgegangen werden soll, ist ebenfalls eine schwierige Entscheidung. „Für den Fall, dass das Körperteil noch gerettet werden könnte, ist viel psychologische Einfühlung angesagt“, sagt Brugger. „Solange der Patient ansprechbar ist, sollte die Situation mit ihm besprochen werden. Letztlich ist es wenig sinnvoll, aufwändige operative Maßnahmen vorzunehmen, wenn diese gegen den Willen des Betroffenen sind.“ Es sei noch viel weitere Forschung nötig, um die Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten von BIID besser zu verstehen, sagt der Neurowissenschaftler. „Eine wichtige Voraussetzung für die wissenschaftliche Diskussion ist, dass BIID in die wichtigsten Diagnosesysteme wie ICD-10 und DSM aufgenommen wird“, so Brugger.