Durchgemachte Kinderkrankheiten sind besser als Impfungen mit möglichen Komplikationen, sagen Impfkritiker. Die Hygiene-Hypothese empfiehlt etwas Dreck gegen Allergien. Aber nicht alles, was ein Kind langlegt, hilft dem Immunsystem.
"Mit den STIKO-Impfempfehlungen verfügt Deutschland heute über eines der umfassendsten und besten Programme weltweit zur Verhütung schwerwiegender Infektionskrankheiten und deren Komplikationen." Mit diesen deutlichen Worten begrüßte der Vorsitzende der deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, Fred Zepp, die Teilnehmer der ersten nationalen Impfkonferenz in Mainz vor einigen Tagen. Aber wie sinnvoll sind eigentlich Impfungen? Ist der frühe Pieks im Kinderleben und ein hohes Maß an Hygiene im Haushalt besser als die Bekanntschaft mit Dreck und durchgemachte Kinderkrankheiten?
Kuhstall-Bakterium schützt gegen Allergie
Wer auf dem Bauernhof aufwächst, hat bessere Chancen, als Erwachsener einer Allergie zu entgehen. Auf einer Pressekonferenz des Deutschen Grünen Kreuzes vor einem Monat in Berlin bestätigte Erika von Mutius von der Universität München die entsprechenden Studien noch einmal und nannte dabei auch gleich zwei bisher unbekannte Hauptakteure im Bauernhof-Milieu, die zumindest bei Labortieren als Allergie-Schutzengel wirken: Acinetobacter lwoffii und Lactococcus lactis. "Was uns nicht umbringt, macht uns umso stärker". Die Vorkämpfer für eine freie Entfaltung von Kinderkrankheiten wollen mit entsprechenden Forschungsergebnissen beweisen, dass Infektionen nicht nur gegen Überreaktionen gegen Staub und Pollen, sondern auch gegen ernsthafte Autoimmunkrankheiten wie etwa Diabetes oder im Kampf gegen Krebs helfen. Doch so einfach scheint die Sache nun doch nicht zu sein. Denn wie wären dann die Ergebnisse mehrerer europäischer Studien zu erklären? Christine Benn und ihre Kollegen zeigten an rund 25 000 dänischen Mutter-Kind Paaren, dass mit jeder Infektion in den ersten sechs Lebensmonaten das Risiko für ein atopisches Ekzem anstieg. Stephen Bremner von der Universität London untersuchte rund 30 verschiedene Infektionen im Kindesalter. Keine davon schien eine Bedeutung beim Schutz vor späterem Heuschnupfen zu haben. Schließlich fanden Schweizer Epidemiologen bei einer Untersuchung von rund 1500 Schulkindern heraus, dass jene, die mit Mumps, Masern oder Röteln im Bett gelegen hatten, später häufiger an einer Pollenallergie oder Asthma litten als solche, die gegen die drei Krankheiten geimpft waren. Andererseits sehen Epidemiologen bei Kindern aus Waldorf-Kindergärten und -schulen weniger Allergien, obwohl diese Kinder seltener das STIKO-Impfprogramm durchlaufen.
Ähnlich: Gelbfieber- und Melanomantigene
Nicht recht viel klarer sieht die Situation bei Tumorrisiken versus Infektionen in der Kindheit aus. Eine kanadische Studie zeigte, dass eine MMR-Impfung (Masern, Mumps, Röteln) das Risiko für eine pädiatrische Leukämie um rund die Hälfte verringerte. Wer sich daran macht, andere menschliche Mikrobenfloren früh kennen zu lernen, profitiert auch beim Krebsrisiko. Entsprechend britischen Ergebnissen nutzt jede frühe soziale Aktivität von Mutter und Sprössling der kindlichen Tumorabwehr, besonders aber ein Aufenthalt im Kinderhort. Er halbierte ebenfalls das Risiko für eine frühe ALL. Während Leukämien bei Kindern vergleichsweise häufig und und gut zu bekämpfen sind, verhält es sich bei Melanomen ganz anders. Eine BCG-Impfung gegen Tuberkulose im Kindesalter schützt auch bei Erwachsenen vor diesem aggressiven Tumor. Ebenso verhält es sich bei der früher verbreiteten Pockenimpfung. Ein Team von Wissenschaftlern aus Italien, Deutschland, England und Holland fand bei Studien von rund 28 000 Teilnehmern in der Region Veneto heraus, dass auch eine Gelbfieber-Impfung rund zehn Jahre danach sehr wirkungsvoll vor dem schwarzen Hautkrebs schützt. Bei diesen Studien wird schließlich auch der Zusammenhang zwischen Impfung und Protektion deutlich: Denn das BCG-Vakzin hat genauso wie das gegen Gelbfieber eine ähnliche Aminosäurestruktur wie ein Antigen (HERV-K-MEL), das in 95 Prozent aller malignen Melanozyten vorkommt. Das Training mit den Vakzinen nützt dem Immunsystem also damit auch im Kampf gegen eigene entartete Körperzellen.
"Molecular Mimikry", die Ähnlichkeit zwischen Mikroben-Antigen und körpereigenen Strukturen, ist wohl einer Grundlagen für ein frühes Training des Immunsystems, damit es sich später gegen Angriffe von außen und innen wehren kann - und dabei nicht aus dem Gleichgewicht gerät. Nicht selten verlaufen Vireninfektionen bei Kinder gleichzeitig mit einer transienten Autoimmunreaktion ab. Dabei kommen wohl auch regulatorische T-Zellen ins Spiel, die das Immunsystem bei Allergiegefahr, aber auch bei Angriffen auf körpereigene Antigene wieder beruhigen können. Das bestätigt auch der Bonner Immunologe Joachim Schultze in einem Interview mit der Apotheken-Umschau: "Wenn das Immunsystem falsch reagiert, fehlt offenbar die Balance zwischen regulierenden Zellen und jenen Zellen, die den Immunangriff vollziehen."
„Alte Freunde“ verleihen Schutz
Und was wird aus der Hygiene-Hypothese? Yehuda Shoenfeld hat in Zusammenarbeit mit brasilianischen Wissenschaftlern Infektionen in Zusammenhang mit 16 verschiedenen Autoimmunkrankheiten gestellt. Er schreibt in seinem Review: "Für ein gesundes Leben und den Schutz vor Infektionen und Autoimmunkrankheiten scheint es wichtig zu sein dass sich früh in der Entwicklung "alte Freunde" wie Lactobazillen oder Bifidobakterien den Körper infizieren oder sich ansiedeln." Damit ließen sich auch die Ergebnisse erklären, die wenige klinisch relevante Infektionen mit einem Leben ohne Allergie verknüpfen. Denn Stephen Bremners Statistiken beziehen sich nur auf Infektionen in den ärztlichen Krankenakten.
Der Schlüssel für unser inneres Immun-Gleichgewicht scheint daher die frühe Bekanntschaft mit der Außenwelt und Keimen in der Umgebung zu sein. Dafür braucht es jedoch keine "Masern-Partys" oder Live-Erlebnisse von Kinderkrankheiten statt Impfungen. Mel Greaves vom Insitute of Cancer Research in London glaubt sogar an eine entsprechende Programmierung im Laufe der Evolution: Das Repertoire an Immunzellen erwarte eine baldige Infektion kurz nach der Geburt. Ohne diese Besiedlung gebe es keine effektive Abwehr zukünftiger Bedrohungen.