Der jüngste Amoklauf in Winnenden beunruhigt die ganze Nation, denn nach der Tat ist vor der Tat. Warum Jugendliche derartig ausrasten, ist mit psychopathologischen Auffälligkeiten allein nicht zu erklären. Prävention muss in den Anfangsphasen des Amoklaufs ansetzen.
Jung, männlich, isoliert, frustriert – diese Merkmale treffen offenbar auf annähernd alle untersuchten Fälle von jugendlichen Amokläufern an Schulen zu – und so wahrscheinlich auch auf den aktuellen Fall des Tim K. aus Winnenden, wenn auch über Motive und psychische Verfassung des Täters noch wenig bekannt ist.
Kommen zu all diesen Eigenschaften noch die Begeisterung für Waffen und die übermäßige Beschäftigung mit Gewaltspielen am Computer scheint der Amokläufer fertig gebacken zu sein. Solche Auffälligkeiten weisen allerdings Tausende von Jugendlichen auf, die dennoch niemals straffällig werden. Eine Etikettierung des Unfassbaren scheint nicht die Lösung zu sein und konnte darüber hinaus in einer Analyse von Experten des United States Secret Service und United States Department of Education aus dem Jahr 2002 so nicht bestätigt werden. Bei den in 27 Jahren identifizierten 37 Attacken auf Schulen waren die Täter sehr wohl männlich und jung, wiesen jedoch kein einheitliches Persönlichkeitsprofil auf.
Woran krankt der Amokläufer?
Forschungsarbeiten auf dem Gebiet Amok sind relativ rar, doch erkennen in Anbetracht der sich wiederholenden Ereignisse Experten wie Laien den dringenden Bedarf. Amok wurde lange Zeit stark psychiatrisiert. Diese Entwicklung ging aus dem Aufsehen erregenden Amoklauf des Hauptschullehrers Ernst Wagners im Jahr 1913 hervor, der selten gut dokumentiert worden war und aufgrund des Überlebens des Amokläufers zu umfangreichen Informationen führte. Hintergrund dieser Tat war ein paranoider Wahn, der sich beim Patienten nach einem sodomistischen Akt entwickelt hatte, beschreibt Gewaltforscher Dr. Jens Hoffmann vom Institut Psychologie und Sicherheit in Aschaffenburg den Fall. Paranoia als Auslöser trifft aber nicht auf alle Amokläufer zu. Meist werden drei Gruppen von Tätern unterschieden: Die depressiven, schizophren-paranoiden und kontaktscheuen, völlig unauffälligen Typen.
Amok gilt als eine Sonderform des Tötungsdelikts, bei dem sowohl Mord als auch Selbstmord zumindest als Intention auftreten. Den Rahmen dieser Tat bildet immer eine psychische Erkrankung, so Lothar Adler, Professor für Psychiatrie im thüringischen Mühlhausen, einer der wenigen in Deutschland, die zum Thema forschen. Einigkeit besteht weitgehend darüber, dass sich ein typischer Ablauf des Amoks in vier Phasen erkennen lässt:
Serotoninmangel als Teilerklärung
Einen Erklärungsansatz bieten auch pathophysiologische Befunde im Rahmen der Hirnforschung. Als Affektregulator gilt das serotenerge System. Ein Serotoninmangelsyndrom spielt bei Gewalt gegen andere und die eigene Person eine Rolle, ergaben Untersuchungen an Mördern und Selbstmördern. Auch bei Affen konnte ein Serotoninmangel mit einer Impulssteuerungsstörung in Verbindung gebracht werden. Allerdings heißt das nicht, dass Täter wie Opfer allein der Biologie des Täters ausgeliefert sind und jeder mit Serotoninmangel zum Amokläufer wird, so Adler. Zudem gibt es zum Thema keine Untersuchungen bei Amokläufern.
In diesem Sinne gibt es keine Gewalt- oder Verbrechergene, meint auch Gerhard Roth vom Institut für Hirnforschung der Universität Bremen. Als biologische Grundlage kriminellen Gewaltverhaltens hat die Serotoninmangelhypothese jedoch Bedeutung. Zudem fanden sich in der Magnetresonanztomografie hirnorganische Korrelate des Gewaltverbrechens, und Mörder wiesen eine geringere Aktivität im Frontallappen und oberen parietalen Kortex vor allem auf der linken Seite auf (Arch Gen Psychiatry. 2000; 57: 119-127). Ob dies auf die besondere Gruppe jugendlicher Amokläufer zutrifft, ist allerdings unklar.
Dass Amokläufer grundsätzlich nicht gesund sind, steht für die meisten außer Frage. Dass sich allerdings Täter mit Diagnosen einer psychiatrischen Störung, Persönlichkeitsstörung, dissoziativen Störung, Depression oder mit anderen pathophysiologischen Auffälligkeiten durchgängig beschreiben lassen, ist unwahrscheinlich, jedoch in Einzelfällen durchaus zutreffend.
Prävention mit Frühwarnsystem
Jens Hoffmann weiß um die unterschiedliche Persönlichkeit von Amokläufern. Er entwickelte ein Frühwarnsystem, das Amokläufe verhindern helfen soll. Zugrunde liegt ein Anti-Amok-Modell (DyRiAS), das sich bereits an sechs Schulen in der Testphase befindet. Das Programm prüft 31 Faktoren und erstellt so ein Verhaltensmuster von möglicherweise gefährdeten Jugendlichen. Dem Modell zugrunde liegt die Analyse weltweiter Amokläufe seit 1974.
Hoffmann ist sich sicher, dass sich zielgerichtete Gewalttaten und Amok an Schulen bereits im Vorfeld erkennen lassen. Dies ergab seine aktuelle Studie „Amok und zielgerichtete Gewalttaten an Schulen in Deutschland“, die in der Aprilausgabe der Zeitschrift „Kriminalistik“ veröffentlicht wird. In allen untersuchten Fällen von Amokläufen ließen sich deutliche Risikomerkmale im Verhalten und in der Kommunikation der Täter im Vorfeld der Tat identifizieren. Gefragt ist dann mit Sicherheit ein multimodaler Ansatz mit psychologischen, medizinischen und sozialtherapeutischen Interventionen.