Bisher war der Freisinger Ortsteil Weihenstephan vor allem für sein wohlschmeckendes Bier bekannt. Die dort ansässige Biotech-Firma Pieris möchte das ändern – und zwar mit einer neuen Proteinklasse, die monoklonalen Antikörpern Paroli bieten könnte.
Monoklonale Antikörper gelten als Wunderwaffe der modernen Medizin. Dank ihrer spezifischen Wirkungsweise kann eine Vielzahl von Krebs- und Autoimmunerkrankungen wesentlich gezielter als bisher behandelt werden. So verlangsamt der unter dem Handelsnamen Avastin bekannte Antikörper Bevacizumab das Wachstum von Bronchial- Dickdarm-, Mamma- und Nierenkarzinomen, indem er sich an den Wachstumsfaktor VEGF heftet und diesen neutralisiert. VEGF wird von allen soliden Tumoren ins angrenzende Gewebe ausgesendet, sobald sie Stecknadelkopfgröße erreicht haben. Er bewirkt das Aussprossen von Blutgefäßen in den Tumor, so dass die schnell wachsenden Krebszellen mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt werden. Doch Avastin hat wie alle anderen monoklonalen Antikörper einige Nachteile. Das Molekül kann aufgrund seiner Größe nur sehr schwer in die Zwischenräume von Zellen eindringen. Zudem erfordert seine Produktion in Bioreaktoren den Einsatz von Säugetierzellen, deren Kultivierung teuer und aufwändig ist.
Neues Protein ist wesentlich kleiner als ein Antikörper
Evert Kueppers, Vorstandsvorsitzender von Pieris, sieht deshalb die Zukunft nicht bei den Antikörpern sondern bei kleineren Bindeproteinen. „Wir entwickeln gerade ein solches Protein, das wie Avastin ebenfalls VEGF abfängt, aber nicht dessen Nachteile aufweist“, sagt Kueppers. PRS-050, so das Kürzel des neuen Wirkstoffs, hat nur ein Drittel der Größe von Avastin und lässt sich in Bakterien- oder Hefekulturen gentechnisch herstellen. In Tieren erzielte er schon die erhoffte Wirkung: Bei krebskranken Mäusen, die den Wirkstoff erhielten, wuchsen die Tumoren noch langsamer als bei solchen, die Avastin bekamen. Ermutigt vom erfolgreichen Tierversuch, will Kueppers noch dieses Jahr die Zulassung für klinische Tests beantragen.
Nach Ansicht von Dr. Klaus Mross, Onkologe an der Klinik für Tumorbiologie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg und Leiter der Einrichtung für Klinische Studien, könnten kleine Bindeproteine wie PRS-050 eine interessante Alternative zu monoklonalen Antikörpern sein, da unerwünschte Immunreaktionen bei ihnen voraussichtlich seltener auftreten. Auch wenn PRS-050 aufgrund seiner geringen Größe Tumorzellen besser erreiche und vom Tumor sezerniertes VEGF wahrscheinlich effizienter abfange, werde es aber ebenso wenig wie Avastin den Krebs auf Dauer heilen können, so der Onkologe. Dieser Klasse von neuen Medikamenten misst Mross dennoch eine besondere Bedeutung zu: „Sie könnten einen wichtigen Beitrag dabei leisten, den metastasierten Krebs in eine chronische Erkrankung zu überführen.“
Kelch hält andere Moleküle fest
Das maßgeschneiderte PRS-050 gehört zur neuen Klasse der Anticaline, die den in der Natur vorkommenden Lipocalinen nachempfunden wurden. Deren Name setzt sich aus Lipis und Calyx, den griechischen Begriffen für Fett und Kelch, zusammen. Die Polypeptidkette der Lipocaline mit rund 180 Aminosäuren ist so gefaltet, dass sie einen Kelch bildet. An dessen Rand sitzen vier Peptidschleifen, die ein anderes Molekül umschließen und festhalten können. So binden und transportieren die Kelchproteine im menschlichen Körper wasserunlösliche Vitamine, Hormone und andere fettartige Substanzen. Zum Beispiel versorgt ein Lipocalin den Tränenfilm mit Fettsäuren und Lipiden, während ein anderes, das Retinol bindende Protein, den Transport von Vitamin A im Blut übernimmt.
In den 1990er Jahren wurden die dreidimensionalen Strukturen der ersten Lipocaline aufgeklärt. Arne Skerra, Professor für Biologische Chemie an der Technischen Universität München , kam damals auf die Idee, künstlich veränderte Lipocaline als Alternative zu den Antikörpern zu entwickeln: „ Als ich die Strukturen der Lipocaline miteinander verglich, stellte ich fest, dass sie alle ein konserviertes Grundgerüst haben, verbunden mit aufgesetzten Schleifen, die sich von Lipocalin zu Lipocalin unterschieden“, sagt Skerra. „Das Aufbauprinzip ist das gleiche wie bei Antikörpern, die ebenfalls aus einem konstanten und einem variablen Teil bestehen.“
Ein Schmetterling war Namensgeber
In den Folgejahren beschäftigten sich Skerra und seine Arbeitsgruppe mit der Suche nach Verfahren, mit der man die Gestalt von Lipocalinen routinemäßig so umgestalten kann, dass sie vorgegebene Zielmoleküle spezifisch binden. Dabei lag ihr Augenmerk zunächst auf einem strukturell besonders gut charakterisierten Lipocalin, das in der Schmetterlingsart Pieris brassicae vorkommt und dort den blauen Farbstoff Bilin bindet. Der Große Kohlweißling war dann auch Namensgeber von Pieris, das Skerra 2001 als Ausgründung der Technischen Universität München ins Leben rief, um die kommerzielle Verwertung der Lipocaline weiter voran zu treiben.
Mittlerweile haben die Wissenschaftler von Pieris außer PRS-050 weitere Anticaline als potenzielle Arzneimittel-Kandidaten identifiziert. Zwei davon befinden sich bereits in einem fortgeschrittenen Entwicklungsstadium. Das eine, PRS-055, zielt auf die feuchte Makuladegeneration, eine altersbedingte Erkrankung der Augennetzhaut, die allmählich zum Verlust der Sehfähigkeit führt. Das andere, PRS-010, soll das körpereigene Immunsystem beim Kampf gegen Krebs und Infektionskrankheiten mobilisieren. Es lagert sich dabei an das Rezeptorprotein CTLA-4 an, das auf der Oberfläche von stimulierten T-Lymphozyten präsentiert wird, und hält diese so länger aktiv.
Anticaline als Doppelpack
Derweil versuchen Kueppers und seine 35 Mitarbeiter den Einsatzbereich der Anticaline zu erweitern. „Wir sind gerade dabei, zwei verschiedene Anticaline miteinander zu verknüpfen“, so der Molekularbiologe. „Eine Bindungstasche dieses Duocalins würde die Tumorzelle erkennen, während die andere sich an eine Immunzelle anlagern könnte.“ Bei bispezifischen Antikörpern funktioniere dieses Prinzip bereits. Eine weitere viel versprechende Möglichkeit sieht Kueppers darin, Anticaline mit einem Toxin oder einer radioaktiven Substanz zu koppeln. Die Kelchproteine könnten dann Krebszellen nicht nur aufspüren, sondern gleichzeitig auch vergiften oder durch Bestrahlung vernichten.