Der hippokratische Eid – mehr Show als Schwur? Die 2.000 Jahre alten Worte verlieren immer mehr an Bedeutung und viele Ärzte haben ihn noch nicht einmal gelesen. Es scheint an der Zeit, Hippokrates’ Erbe aufzufrischen.
„Ich schwöre und rufe Apollon, den Arzt, und Asklepios und Hygieia und Panakeia und alle Götter und Göttinnen zu Zeugen an, dass ich diesen Eid und diesen Vertrag nach meiner Fähigkeit und nach meiner Einsicht erfüllen werde“. Schon diese Formulierung zu Beginn des hippokratischen Eids deutet daraufhin, dass der 2000 Jahre alte Schwur kaum noch in unser modernes Leben integrierbar ist. Man beruft sich auf antike griechische Götter, die heutzutage kaum noch jemand kennt. Damals mussten Ärzte geloben niemals Schwangerschaftsabbrüche oder Maßnahmen der Sterbehilfe durchzuführen. Außerdem verpflichteten sie sich, auf keinen Fall Patienten zu operieren, die z.B. unter Blasensteinen leiden. Das mussten sie nämlich den "Handwerkschirurgen"- einem eigenen Berufsstand – überlassen: „Ich werde nicht schneiden, sogar Steinleidende nicht, sondern werde das den Männern überlassen, die dieses Handwerk ausüben." So schützte man den ärztlichen Ruf, denn damalige Operationen gingen oft schief.
Doch zum Glück wird der Eid des Hippokrates in seiner klassischen Form heute nicht mehr von Ärzten geleistet und hat auch keine Rechtswirkung. In Deutschland muss sogar gar kein Eid verpflichtend nach der Approbation gesprochen werden. Dennoch gibt es einige Universitäten an denen ein Gelöbnis fester Bestandteil der Abschlusszeremonie ist. 17 von 36 medizinischen Hochschulen bieten die feierliche Verlesung eines Gelöbnisses an. Heutzutage sprechen viele Mediziner nach dem Studium das Genfer Ärztegelöbnis. Dieses wurde als moderne Alternative zum Hippokratischen Eid 1948 vom Weltärztebund verfasst: „Bei meiner Aufnahme in den ärztlichen Berufsstand gelobe ich feierlich: mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen. Ich werde meinen Lehrern die schuldige Achtung und Dankbarkeit erweisen. Ich werde meinen Beruf mit Gewissenhaftigkeit und Würde ausüben. Die Gesundheit meines Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein. Ich werde alle mir anvertrauten Geheimnisse auch über den Tod des Patienten hinaus wahren. Ich werde mit allen meinen Kräften die Ehre und die edle Überlieferung des ärztlichen Berufes aufrechterhalten. Meine Kolleginnen und Kollegen sollen meine Schwestern und Brüder sein.“
Weiter heißt es: „Ich werde mich in meinen ärztlichen Pflichten meinem Patienten gegenüber nicht beeinflussen lassen durch Alter, Krankheit oder Behinderung, Konfession, ethnische Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politische Zugehörigkeit, Rasse, sexuelle Orientierung oder soziale Stellung. Ich werde jedem Menschenleben von seinem Beginn an Ehrfurcht entgegenbringen und selbst unter Bedrohung meine ärztliche Kunst nicht in Widerspruch zu den Geboten der Menschlichkeit anwenden. Dies alles verspreche ich feierlich und frei auf meine Ehre.“ Das modernere Gelöbnis umfasst nicht nur verantwortungsvolles Handeln, Schweigepflichtserklärung und Aufrechterhaltung des guten ärztlichen Rufes, sondern geht auch gegen Diskriminierung vor. Doch auch dieser Eid ist noch verbesserungswürdig. Noch immer spiegeln sich etwa die strengen Hierarchien der damaligen Medizin wider, was sich in der Verpflichtung zur „schuldigen Achtung und Dankbarkeit“ vor den Lehrern zeigt. Routinemäßig überprüft der Weltärztebund alle zehn Jahre, ob Ethikdokumente wie das Genfer Gelöbnis den gesellschaftlichen Entwicklungen noch gerecht werden kann. Sollte zwischen der Realität und dem ethischen Kodex eine zu große Lücke klaffen, überarbeitet eine Kommission die entsprechenden Stellen. Vielleicht wird die nächste Version eine weniger ehrerbietige Formulierung enthalten.
In den USA wurde der hippokratische Eid in der Vergangenheit häufig als fester Bestandteil der Approbation gesprochen. Doch auch hier sehnten sich viele Medizinstudenten nach einem neuen Eid, der den heutigen Anforderungen eines Arztes mehr gerecht wird. Viele Ärzte verlieren im stressigen Alltag den Sinn und die Ehrfurcht vor ständigen ethischen Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert sind. Es fängt mit einer angemessenen Aufklärung der Patienten an und geht damit weiter, dass man auf die Wünsche des Patienten eingehen oder ihre Privatsphäre wahren muss. Jeden Tag müssen Ärzte auch ökonomische Entscheidungen treffen, jedoch sollten sie dies tun ohne sich den Gesetzen des Marktes zu unterwerfen.
Auch der vernünftige Umgang mit Kritik und Fehlern sollte mehr beachtet werden. An der Dell Medical School in Texas haben Medizinstudenten deswegen ein neues zeremonielles Gelöbnis formuliert. „Für uns ist Medizin viel mehr als nur Symptome zu behandeln und Diagnosen zu stellen“, erklärt Steve Smith, stellvertretender Studiendekan. Die Studenten der Dell Medical School haben sich entschieden das häufig zitierte Gelöbnis von Louis Lasagna, ehemaliger Dekan der Tufts Medical University, umzuformulieren. So schwören die angehenden Ärzte nun beispielsweise „Ich bin mir bewusst, dass ich keine Laborwerte oder einen Tumor behandele, sondern einen kranken Menschen.“
Etwa ein Drittel der amerikanischen Medizinuniversitäten haben inzwischen eigene Gelöbnisse nach dem Vorbild von Lasagna oder anderen Medizinkoryphäen entworfen. Nur noch etwa zehn Prozent sprechen hier den ursprünglichen hippokratischen Eid. An der Harvard Medical School schreibt neuerdings sogar jeder Jahrgang seinen eigenen individuellen Eid, wodurch auch die persönlichen Erfahrungen der Mediziner während des Studiums Einfluss finden. Die letzte Version, die die Studenten im August 2016 gelobten, liest sich wie eine feurige Predigt. Die angehenden Ärzte rufen dazu auf „die Augen mehr für die Realität zu öffnen“ und sich „aufzulehnen“. „Wir versprechen über historische Ungerechtigkeiten Zeugnis abzulegen, die benachteiligten Gruppen immer noch widerfahren,“ heißt es dort. „Wir müssen den Mut haben zu handeln, wenn wir Ungerechtigkeiten mitansehen“. So wird der zeremonielle Eid auch politisch geprägt und trägt den aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung. Andere Studenten wiederum legen den Fokus mehr auf die Menschlichkeit in der Medizin. So heißt es inzwischen nach Lasagna’s Eid: „Ich werde nicht vergessen, dass die Medizin genau wie die Wissenschaft eine Kunst ist und dass Wärme, Sympathie und Verständnis das Messer eines Chirurgen oder die Medikamente eines Apothekers übertreffen können.“ Ärzte werden außerdem zum einen dazu aufgerufen zuzugeben, wenn sie etwas nicht wissen und zum anderen Krankheiten vorzubeugen sowie nicht nur für die Gesundheit des Patienten Verantwortung zu übernehmen, sondern auch für die Weise, in der eine Krankheit die familiäre und finanzielle Stabilität eines Menschen beeinflussen kann.
In der Schweiz entwickelte der belgische Ethiker Jean-Pierre Wils, zusammen mit einem Chirurgen, einer Wirtschaftswissenschaftlerin, einer Psychologin und einer Theologin am Interdisziplinären Institut für Ethik im Gesundheitswesen in Zürich einen neuen, zeitgemäßen Schweizerischen Ärzteschwur. "Das ärztliche Handeln wird zunehmend durch patientenfremde Interessen korrumpiert", erzählt Kommisionsmitglied Max Giger der Schweizerischen Ärztezeitung. Die Schweizerische Eidkommission fordert daher dringend Anpassungen, die auf die Entprofessionalisierung und den Wandel der Gesundheit zum Handelsgut reagieren. "Der verpflichtende Eid soll Ärztinnen und Ärzten helfen, ihre Berufsidentität zu stärken und das Berufsethos zu befolgen“. So heißt es in dem Schweizerischen Schwur unter anderem: „Ich betreibe eine Medizin mit Augenmaß und empfehle oder ergreife keine Maßnahmen, die nicht medizinisch indiziert sind."
Doch die eigentliche Frage ist auch: braucht es überhaupt einen ärztlichen Eid? Der deutsche Medizinethiker Georg Marckmann ist skeptisch: "Diese Eide werden nach außen schön vorgetragen, aber am Ende werden sie nicht gelebt.“ Was bringt es also, wenn die Approbation mit großen Schwüren abgelegt wird und diese nachher konsequent missachtet werden. Sollten solche Bekenntnisse nicht vielmehr eine generelle Lebenseinstellung sein und keine einmalige Gelobung, die zur Schau gestellt wird? So jedenfalls sehen es die deutschen Universitäten, an denen es keine ärztlichen Eidbekenntnisse gibt. So schreibt die Uni Lübeck: "Ärztliches Handeln ist selbstverständlich. Dazu braucht es keinen Schwur." Doch der Ethiker Jean-Pierre Wils sieht das anders. Ein Eid müsse mit anderen geschworen werden, sonst bliebe er nur ein verstümmelter, lebloser Text in der ärztlichen Standesordnung. Einen Schwur vor Publikum zu schwören bliebe außerdem besser in Erinnerung und ermögliche es erst einzelne Mitglieder einer Gruppe zusammenzuschweißen.
Auch der Kölner Medizinstudent Robert Kösters findet einen ärztlichen Schwur angemessen: „Nach dem Physikum begehen wir in unseren weißen Kitteln eine feierliche „White-Coat-Zeremonie“ nach amerikanischem Vorbild. Und nach dem zweiten Staatsexamen legen wir dann das Genfer Gelöbnis ab. Ich finde das eine sehr gute Gelegenheit sich die ärztlichen Prinzipien unseres Handelns noch einmal vor Augen zu rufen, bevor man dann im Klinikalltag eingebunden wird“. Jannis K., Münchner Arzt, findet hingegen einen Ärzte-Eid für völlig übertrieben: „Warum sollte ein Arzt deshalb professioneller handeln, weil er einen Eid gesprochen hat? Das geht an allem vorbei, was ich in 20 Jahren in der Klinik gesehen habe. Man handelt professionell, weil man den Anspruch an sich selbst hat. Man handelt für den Patienten und man handelt eben auch wirtschaftlich, da das System uns dazu nötigt.“ Ob geschworener feierlicher Eid oder nicht, letztlich ist jeder Arzt nach der Berufsordnung zu veranwortungsvollem und menschlichem medizinischen Handeln verpflichtet, was dort ausführlich festgelegt ist. Schließlich geht es auch darum Wege zu finden dem ethisch begründeten Handeln mehr Beachtung zu schenken - trotz oder gerade in Zeiten, in denen die reine Wirtschaftlichkeit in Krankenhäusern und Arztpraxen droht die Überhand zu gewinnen.