Nur noch die allerbesten Abiturienten bekommen einen der begehrten Studienplätze für Medizin. Fraglich ist, ob die Einserschüler letztendlich auch die besseren Ärzte sind. Außerdem bleibt zu klären, ob dieses System dem Ärztemangel entgegen wirken kann.
War noch vor einigen Jahren an manchen Universitäten eine 1,2 oder 1,1 im Abiturzeugnis ausreichend, um direkt zum Studium zugelassen zu werden, steht bei den glücklichen Studenten, die im letzten Jahr direkt ihr Studium beginnen durften, in der Regel nur noch eine glatte 1,0 in ihrem Abschlusszeugnis. Nur die absolute Elite bekommt also direkt nach dem Abitur einen Medizinstudienplatz über die sogenannte Abiturbestenquote, nach der 20 % der Studienplätze vergeben werden. Alle anderen müssen entweder warten oder den Weg über das Auswahlverfahren gehen. Hierbei können die Hochschulen selbst nach eigenen Kriterien ihre Kandidaten auswählen. Es werden jeweils 60 % der Studienplätze nach diesem Verfahren vergeben. Jedoch zählt zu diesen Kriterien in der Regel, und das meist zu keinem geringen Anteil, auch wieder die Abiturnote oder die im Abitur erreichte Punktzahl. Schüler mit einem schlechteren Abitur von beispielsweise 1,9 müssen sich gegenüber den Konkurrenten mit besserer Abschlussnote deutlich stärker ins Zeug legen, um noch eine Chance auf den ersehnten Studienplatz zu haben.
Hat letztendlich alles nichts geholfen und war auch das Auswahlverfahren erfolglos, bleibt nur noch das Warten. War zum Wintersemester 2014/2015 noch eine Wartezeit von 12 Semestern, also eine Dauer von sechs Jahren, ausreichend, so mussten die zukünftigen Studenten im letzten Wintersemester bereits 14 Wartesemester vorweisen, um einen Studienplatz zu erhalten. Das sind sieben Jahre Wartezeit, in denen die Kandidaten kein anderes Studium beginnen dürfen und die irgendwie überbrückt werden wollen. Viele junge Menschen nutzen diese Zeit, um sich in einem medizinischen Ausbildungsberuf auf ein Leben in der Medizin vorzubereiten. Doch der Wunsch, Arzt zu werden, muss schon groß sein, um so lange bei der Stange zu bleiben und den Traumberuf nicht aus den Augen zu verlieren.
Diverse Studien bestätigen, dass Schüler mit einer sehr guten Abschlussnote in der Regel auch im Studium gute Noten vorweisen und dieses zumeist in der Regelstudienzeit absolvieren. Allerdings lässt sich daraus nicht ableiten, dass sie auch automatisch Fähigkeiten besitzen, die speziell im klinisch-praktischen Bereich gefordert werden. Vollkommen logisch eigentlich. Nur weil bei einem Schüler eine 1,0 im Abizeugnis steht, heißt das schließlich noch lange nicht, dass er auch gut mit Menschen umgehen kann, in der Lage ist, komplizierte medizinische Sachverhalte verständlich zu erläutern oder besonderes, handwerkliches Geschick beim Operieren eines Patienten aufweist. In einem Interview äußert sich der Facharzt für Allgemeinmedizin sowie allgemeine Chirurgie und Leiter einer Lehrpraxis, Mathias Sander, zu dieser Thematik: „Ich denke, dass für den Bereich Forschung und wissenschaftliches Arbeiten schon eine qualitative Voraussetzung gegeben sein muss, die sich meines Erachtens durchaus in der Abiturnote darstellt. Insofern sollte auf jeden Fall ein Teil der zugelassenen Studenten über die Abiturnote zugelassen werden. Für die Arbeit am Patienten spielen allerdings weitere Qualitäten eine wichtige Rolle, die sich wiederum nicht in der Abiturnote darstellen lassen. Hier wäre es eine wesentliche Aufgabe der Politik, einen Kriterienkatalog zu erarbeiten mit einer entsprechenden Gewichtung, je nach angestrebtem Berufsziel in der medizinischen Versorgung.“
Angesichts des aktuellen Ärztemangels, besonders im ländlichen Bereich, stellt sich die Frage, ob das derzeit angewandte Auswahlverfahren wirklich sinnvoll ist. Denn wollen diese Eliteschüler, die jahrelang mit Ehrgeiz und Fleiß für eine Top-Abiturnote gekämpft haben, sich dann später wirklich mit einem Job in der Landarztpraxis zufrieden geben? Forschung und Klinik locken mit Geld und Karrierechancen. Als Landarzt sehen die Perspektiven heute teilweise deutlich weniger rosig aus. Dies bestätigt auch Allgemeinmediziner Mathias Sander, der selbst eine Lehrarztpraxis in ländlichem Gebiet betreibt und mit der Problematik des Landarztberufes vertraut ist: „Natürlich haben die Auswahlkriterien einen Einfluss auf die ärztliche Versorgungsstruktur und auch auf die ärztliche Standespolitik, die untrennbar mit der Versorgungsstruktur verknüpft ist. Zunächst einmal müsste es tatsächlich ein von der GKV und der Politik getrenntes, wirklich freies Ärzteparlament in der gesetzlichen Krankenversorgung geben.“ „Zudem sollte eine Reform der ärztlichen Vergütung stattfinden, so dass es eine grundlegend gleiche Vergütung (Arztstunde ist Arztstunde und ist allen Ärzten gleich zu entlohnen) für alle Ärzte gibt, gemäß eines einheitlichen Stundenlohns, der dann um qualifikationsgebundene Boni erweitert werden kann. Grundsätzlich sollte eine gute qualifizierte Arbeit auch tatsächlich angemessen bezahlt werden, was zur Zeit nicht passiert. Es ist nicht zu begreifen, warum ein Radiologe mit einer 5-jährigen Facharztausbildung bei geringerer Arbeitszeit deutlich mehr verdient als ein ländlicher Hausarzt mit ebenfalls 5-jähriger Facharztausbildung und doppelt so langer Arbeitszeit. Auch muss eine andere Regelung zur Mengensteuerung der Medikamentenverordnungen gefunden werden, als die ständige Bedrohung der Ärzte mit Regressen und Budgetierungen. Keine andere Berufsgruppe, außer vielleicht die Landwirte, wird dermaßen gegängelt und geknebelt. Solange diese Missstände nicht abgeschafft sind, werden sich viel zu wenig Medizinstudenten für eine Patientenversorgung auf dem Land entscheiden,“ sagt Sander.
Auch der Präsident der Bundesärztekammer, Professor Frank Ulrich Montgomery, stellt den Status Quo infrage und erklärt in einem Statement: „Wir müssen dafür sorgen, dass diejenigen ausgewählt werden, die hinterher auch in der Versorgung der Bevölkerung arbeiten wollen. Die Abiturnote allein reicht da nicht. Für das Auswahlverfahren bei der Studienplatzvergabe in der Medizin sollten neben der Abiturnote weitere Kriterien herangezogen werden. Dazu zählen unter anderem psychosoziale Kompetenzen, soziales Engagement, besondere naturwissenschaftliche Kenntnisse und einschlägige Berufserfahrung. Die Universitäten sollten hierfür objektive und transparente Auswahlverfahren nach bundeseinheitlichen Kriterien durchführen, die wissenschaftlich begleitet und evaluiert werden. In diesem Punkt müssen die Universitäten finanziell unterstützt werden.“ Auch der Allgemeinmediziner Mathias Sander hält die Auswahlkriterien für ausbaufähig: „Ich denke, dass es sehr wichtig ist, weitere Auswahlkriterien wie gerade auch soziale Kompetenz, Empathiefähigkeit, aber auch Entscheidungsfähigkeit, problemorientiertes Denken und Handeln und eben auch feinmotorisches Geschick, räumliche Vorstellungskraft und Kreativität in den Vergabemodus mit einzubeziehen.“