Wer als Laie vermeintlich harmlose Beschwerden in die Suchmaschine eingibt, landet nicht selten bei lebensbedrohenden Krankheiten. Wie das Netz aus Ratsuchenden „Cyberchonder“ macht, haben zwei Microsoft-Forscher untersucht.
Seine Kopfschmerzen lassen ihn nicht schlafen. Mitten in der Nacht steht er auf und wirft seinen Computer an. In Google gibt er "Kopfschmerzen" ein. Die Ergebnisse bestätigen seine schlimmsten Erwartungen. Ohne Zweifel frisst sich ein Tumor nach und nach durch sein Hirn.
Diese Geschichte ist zwar erfunden, aber nicht völlig abwegig. Denn nach der Eingabe von Krankheitssymptomen in die Suchmaske reiht die Maschine die gesammelten Webseiten mit entsprechenden Krankheitsbildern in eine Folge, die mit der Häufigkeit des Auftretens meist nur wenig zu tun hat.
Cyberchonder - Chronische Pessimisten
Rund zwei von fünf Deutschen informieren sich vor ihrem Arztbesuch im Internet über den Ursprung ihrer Beschwerden. Und laut Umfragen vertrauen immer mehr Surfer den Informationen aus dem Netz. Für verzweifelte Sucher nach Diagnosen per Tastatur und Mausklick hat Brian Fallon von der Columbia University in New York einen griffigen Ausdruck geprägt. 'Cyberchonder' schenken dem Wissen aus dem Netz mehr Glauben als ihrem Hausarzt. Im Zweifelsfall bringen sie der schlimmstmöglichen Diagnose am meisten Vertrauen entgegen. Und sie sind keine Exoten: Entsprechend einer amerikanischen Untersuchung kümmern sich drei von vier Amerikanern bei der Suche nach Gesundheitsinformationen nicht um Qualitätssiegel oder um die Herkunft der Inhalte.
Suchresultate ohne Bezug zur Häufigkeit
Wie groß ist die Gefahr, im Internet auf falsche Krankheitsfährten gelockt zu werden? Das wollten Ryen White und Eric Horvitz von Microsoft-Research wissen. Sie pickten sich in ihrer Studie die drei gängigen Suchbegriffe Kopfschmerz, Muskelzucken und Brustschmerzen heraus und suchten nach wahrscheinlichen und seltenen Ursachen wie etwa Koffeinentzug, Stress und Gehirntumor für das Brummen im Schädel oder benigne Faszikulation und ALS für den zuckenden Muskel. Ohne gezielte Suche erwähnte im Zusammenhang mit Kopfschmerz etwa ein Drittel der gelisteten Gesundheitsseiten den fehlenden Kaffee, zwei Drittel Stresssymptome und nur rund drei Prozent den drohenden Hirntumor. Die Suchmaschine skizzierte jedoch ein ganz anderes Bild: je ein Viertel der Resultate in den 'Top Ten' erwähnten Hirntumor und Koffeinentzug als Hintergrund für Kopfschmerzen. Ähnliche Ergebnisse ergaben sich zum Beispiel auch bei Brustschmerzen im Zusammenhang mit Verdauungsproblemen oder einem Infarkt.
Etwa jede zwanzigste Suche, so fanden die Forscher bei der Analyse von Log-Daten heraus, wurde mit immer ernsthafteren Symptomen in das Eingabefenster fortgeführt. So folgten etwa auf Kopfschmerzen die "starken Kopfschmerzen" oder gleich die gezielte Frage nach dem Tumor. Besonders jene eskalierenden Suchen nach Krankheitssymptomen hielten dem Sucher oft sehr lange im Netz, zum Teil über Stunden hinweg. Auch bei der Befragung von 515 Microsoft-Mitarbeitern bestätigte sich die Attraktivität des Cyberspace für Hypochonder. Denn rund 20 Prozent der Probanden gaben zu, sich auf der Suche nach Information für Krankheitssymptome häufig vom Überblick zu schlimmen Störungen durchzuarbeiten - auch dann, wenn die Ursache nur so selten wie etwa ein Glioblastom mit einer Häufigkeit von 1:30.000 auftritt. Immerhin glaubten auch fast die Hälfte der Befragten, dass die Reihenfolge der Suchresultate zumindest gelegentlich auch die Häufigkeit der zugrunde liegenden Krankheiten widerspiegle. Nicht selten schürt auch eine unverständliche Terminologie der Webseiten deren Ängste. Allerdings, so ergab sich auch aus der Untersuchung, ließ sich zumindest ein Viertel der Netz-Verunsicherten von den Ergebnissen zu einem Termin bei ihrem Arzt überreden.
Die Ergebnisse der Microsoft-Forscher spiegeln damit auch die Wirkung anderer Medien auf ratsuchende Patienten wieder. Denn wie auf dem Chirurgentag im Dezember 2008 bekannt wurde, führt auch häufiger Fernsehkonsum zu Ängsten vor Arzt und Klinik.
Gesundheits-Qualitätssiegel für Laien
Wie der Ausweg aus dem Dilemma unbegründeter Ängste aussehen könnte, beschreiben White und Horvitz ebenfalls. Im Cyberspace der Zukunft könnte eine intelligente Suchmaschine bereits aus der Eingabe von Begriffen und vorher besuchten Netzseiten erkennen, ob sich der User nur oberflächlich über Krankheitsbilder informieren oder eine Selbstdiagnose stellen will. Suchmaschine und Webseiten-Anbieter weisen ihre Nutzer dann auf entsprechende Gefahren falscher Schlussfolgerungen hin oder/und empfehlen den entsprechenden Spezialisten. Bereits jetzt gibt es für den Laien Qualitätssiegel, anhand derer er zuverlässige Informationen einschätzen kann. Die zwei bekanntesten sind die Schweizer "Health On Net Foundation" (HON) sowie "afgis“, das Aktionsforum Gesundheitsinformationssystem. Auf politischer europäischer Ebene haben sich inzwischen ein halbes Dutzend Staaten zusammengeschlossen, um im Projekt "MEDIEQ" Qualitätsmerkmale zu definieren, die auch für Suchmaschinen lesbar sind. Ob man damit allerdings die Tendenz mancher "Cyberchonder" eingrenzen kann, sich in entsprechenden Selbsthilfe-Foren mit Sätzen wie " ich will Dir ja nicht Angst machen, aber...." zu verunsichern, bleibt sehr fraglich.
Das British Medical Journal schreibt in einem Artikel aus dem Jahr 2006, wie Google erfahrenen Medizinern helfen kann, bei der Eingabe korrekter Symptome die richtige Diagnose zu stellen. Immerhin lag der Computer bei sechs von zehn Beispiel-Fällen aus dem New England Journal richtig. Bei Laien können dagegen falsche Fährten nicht nur zu unbegründeten Ängsten, sondern zu weit schlimmeren Störungen führen - Fälle für eine psychotherapeutische Behandlung.