Vitamin D ist „in“: Es gibt einen Mangel allerorten, lautet die Botschaft, die in den letzten Wochen massiv durch die Medien ging. Doch ist Vitamin D wirklich nur segensreich? In der Fachwelt gibt es darüber zumindest Diskussionen.
„Häufig fehlt’s an Vitamin D.“ „Unzureichende Vitamin D-Versorgung in Deutschland.“ „Deutsche brauchen mehr Vitamin D“ – So oder ähnlich lauteten die Schlagzeilen in diversen Medien in den vergangenen Wochen, von der Ärzte Zeitung bis zum Focus. Anlass für das mediale Buschfeuer war eine Pressemeldung des Wissenschaftstickers idw vom 31. März 2009. In dieser Meldung informierte die Universität Hohenheim über das 1. Hohenheimer Ernährungsgespräch, das von dem dortigen Institut für Biologische Chemie und Ernährungswissenschaft initiiert wurde.
Im Kanon der Vitamine gilt Vitamin D als fast uneingeschränkt gut
An dem Gespräch nahm eine Reihe von Experten unterschiedlicher Einrichtungen teil, die in der Auffassung vereint waren, dass die Vitamin D-Versorgung in Deutschland nicht optimal sei. „Nach derzeitigen Erkenntnissen sollte der Vitamin D-Spiegel höher liegen, als früher gedacht, und gemessen daran sind die Werte in der deutschen Bevölkerung generell zu gering“, ließ sich beispielsweise Dr. Birte Hintzpeter vom Robert Koch-Institut zitieren. Und Dr. Armin Zittermann vom Herz- und Diabeteszentrum Nordrhein-Westfalen gab zu Protokoll: „Es mehren sich die Hinweise, dass eine defizitäre Vitamin D-Versorgung bei Personen mittleren und höheren Alters mit einer erhöhten Sterblichkeit einhergeht.“ Einer der Wege, über den Vitamin D den Organismus neben seiner bekannten Funktion beim Knochenaufbau positiv beeinflusst, ist demnach ein Effekt auf das Immunsystem. Eine Vitamin D-Unterversorgung in der frühen Entwicklung führe später im Leben zu überschießenden Abwehrreaktionen und vermehrten Allergien, so die Wissenschaftler. Zur Bestätigung werden meist Studien aus der Rheumatologie zitiert, wonach zwei Drittel der Patienten mit rheumatoider Arthritis zu geringe Vitamin D-Spiegel hätten. Auch scheint es eine Korrelation zwischen hohen Vitamin D-Spiegeln und Symptomkontrolle zu geben. Anders herum: Vitamin D, so eine in den letzten Jahren zunehmend vertretene These, hat protektive und/oder therapeutische Effekte bei Autoimmunerkrankungen wie der RA. Das ist auch in Deutschland die Mehrheitsmeinung.
Wegbereiter für fiese Keime?
Die allerdings nicht alle teilen. In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Autoimmunity Reviews beschäftigen sich Wissenschaftler der in Kalifornien ansässigen Autoimmunity Research Foundation um Trevor Marshall von der Murdoch University mit einer Alternativhypothese, die ziemlich konträr ist. Der Beitrag, der unter anderem auf einem Vortrag (auch als Video verfügbar) von Marshalls Kollegen Thomas Perez beim letzten International Congress on Autoimmunity in Portugal beruht, ist hier als Vorabdruck im Volltext nachlesbar.
Die Alternativhypothese besagt, dass übermäßiger Vitamin D-Genuss nicht vor Autoimmunkrankheiten schütze, sondern diese langfristig verschlimmere beziehungsweise möglicherweise sogar mit verursache. Marshall und seine Kollegen weisen zunächst darauf hin, dass der Vitamin D-Metabolit 25-Hydroxy-Vitamin D in seiner molekularen Struktur Steroiden ähnele. Er wirke am nukleären Vitamin D-Rezeptor, führe da aber eher zu einer Inaktivierung als zu einer Aktivierung wichtiger Immunprozesse, so die Autoren. Und da liegt der Hund begraben. Denn therapeutisch beziehungsweise über die Nahrung zugeführtes 25-Hydroxy-Vitamin D scheint auf diesem Wege zwar einerseits Entzündungsreaktionen zu hemmen. Das erklärt einen gewissen therapeutischen, steroidartigen Effekt von 25-Hydroxy-Vitamin D bei Autoimmunerkrankungen. Langfristig allerdings könnte die Immunantwort durch Vitamin D eher ausgebremst werden. Vor allem die Fähigkeit des Körpers, mit chronisch persistierenden Infektionserregern fertig zu werden, werde verringert, so Marshall. Diese aber gelten als heiße Kandidaten für die „erste Ursache“ bei der Entstehung von Autoimmunität.
Nicht mit Vitamin D um sich werfen!
Aufbauend auf diesen Beobachtungen interpretieren die Forscher die auffällig niedrigen Vitamin D-Spiegel vieler Patienten mit rheumatischen Erkrankungen als eine Art Schutzreflex des Körpers gegen chronische Infektionen. Sie raten deswegen davon ab, Vitamin D bei Autoimmunkrankheiten unkritisch zu substituieren. Einer der Autoren des Reviews, die Wissenschaftlerin Amy Proal, geht sogar noch einen Schritt weiter: „Die Einnahme von Vitamin D wird derzeit in nie dagewesenen Dosierungen empfohlen. Gleichzeitig werden nahezu alle Autoimmunerkrankungen häufiger.“ Soll heißen: Vitamin D könnte Rheuma, Allergien & Co nicht nur verschlimmern, sondern möglicherweise auch zu deren Entstehung beitragen. Klar ist: Das alles ist zwar eine durch Forschungsergebnisse gestützte Hypothese, aber eben doch nur eine Hypothese. Mehrheitsmeinung ist es nicht. Aber Vitamin D wäre auch nicht das erste Vitamin, von dem sich die Medizin nach großem Jubel wieder vorsichtig distanziert.