Die WHO sagt, die Pandemie durch die "Schweinegrippe" steht unmittelbar bevor. Experten sind sich uneinig, ob wir mit einem Vielfachen der jährlichen Grippeopfer rechnen müssen oder doch nur mit einer harmlosen Infektion. Wertvolle Ressourcen zu früh zu verpulvern, könnte sich rächen.
Nun ist sie also bei uns angekommen. Schon vor einigen Tagen hatten Epidemiologen vorausgesagt, dass eine weitere Ausbreitung der aktuellen Influenza-Epidemie mit Ursprung Mexiko nicht mehr aufzuhalten sei. Die WHO hat die zweithöchste Warnstufe ausgerufen. „Die größte Frage ist heute, die wie schlimm die Pandemie sein wird, besonders jetzt zu Beginn“, sagte WHO-Generalsekretärin Chan am Mittwoch. Müssen wir wie vor einem Jahrhundert mit vielen Millionen Toten rechnen? Oder doch "nur" mit rund 200.000 weltweit, die die jährlich wiederkehrenden Grippeepidemien nicht überleben.
Erinnerungen an die SARS-Epidemie im Jahr 2003 mit rund tausend Toten werden wach. Nur lassen sich dieses Mal die Reisenden an den Flughäfen nicht so zielsicher identifizieren, wie WHO-Sprecher Hartl erklärt. Denn Betroffene zeigen die Symptome ihrer Erkrankung nicht wie damals sofort, sondern erst nach einigen Tagen. Virusträger entwischen damit den Wärmebildkameras, die inzwischen an vielen asiatischen Flughäfen im Einsatz sind.
Impfstoff: Ressourcenverschwendung oder Priorität für den Notfall?
Drei Stunden oder drei Tage nach der Ansteckung beginnen die Symptome und dauern nach Auskunft der Gesundheitsbehörden bis zu sieben Tage, bei schwachem Immunsystem auch länger. Das amerikanische Center for Disease Control (CDC) warnt davor, Kinder mit entsprechenden Symptomen, also auch Halsschmerzen, mit Aspirin zu behandeln. Die Kombination von Influenza-Infektion und ASS erhöht die Gefahr für ein Reye-Syndrom mit bleibenden Schäden für Gehirn und Leber. Das Robert-Koch-Institut informiert wie die Gesundheitsbehörden der Länder mit Hotline, Rundschreiben und Webauftritt über Erkennung von Verdachtsfällen und deren Behandlung. Glücklicherweise reagiert der neuartige Erreger auf Neuraminidasehemmer wie Oseltamivir und Zanamivir. Besonders in der Frühphase der Epidemie können die Wirkstoffe die Krankheitsdauer verkürzen und die Infektion eindämmen. Auf die Dauer birgt aber ein massiver Einsatz dieser Mittel Gefahren. Präventiv eingesetzt, ist es dann wie auch beim Vogelgrippevirus H5N1 wohl nur eine Frage der Zeit, wann erste Resistenzen auftauchen.
Ähnliche Hürden tun sich auch bei der Entwicklung von Impfstoffen auf. Die deutschen Behörden arbeiten mit zwei Impfstoffherstellern zusammen. Die Produktion könnte entsprechend dem Pandemieplan nun bei Stufe 5 beginnen, denn laut WHO sind nicht mehr nur einzelne Menschen, sondern größere Teile der Bevölkerung betroffen. Die Universität Marburg und Novartis haben am Montag Abmachungen über die Entwicklung eines Vakzins gegen den aktuellen Erreger H1N1 getroffen. Am Institut für Virologie arbeiten die Mitarbeiter nach Auskunft von Direktor Stephan Becker daran bereits mit Hochdruck - mit den von der WHO herausgegebenen Sequenzen des Virusgenoms. Ob die Produktion von Impfstoffen gegen die Mexiko-Grippe und die spätestens im Herbst wiederkehrende "normale" Influenza gleichzeitig stattfinden kann, ist aber fraglich. Schon in den vergangenen Jahren gab es immer wieder Engpässe bei Grippeimpfstoffen. Ohnehin werden im Ernstfall nur 20 Prozent der Bevölkerung von einer Pandemie-Impfung profitieren, zuerst Ärzte und weitere Angehörige der Gesundheitsversorgung, Politik und Polizei, danach entsprechend dem Bedarf.
Viren-Kochtopf Schwein
Zu den Fragen, die sich die Wissenschaftler stellen, gehört auch jene, wie sehr sich die Viren in Mexiko von jenen in anderen Ländern unterscheiden. Denn die veröffentlichten Sequenzen stammen alle von Virusisolaten außerhalb Mexikos. Virologen in Kalifornien identifizierten den neuen Influenza-Subtyp zuerst in San Diego. Kurze Zeit später war klar, dass es sich bei den Grippefällen in Mexiko nicht um die normale Saisonerkrankung, sondern um den gleichen neuen Influenzatyp handelte. Sein RNA-Genom stammt anscheinend vom Erreger der bisher bekannten Schweinegrippe ab. Das Besondere und Gefährliche und andere zum bisherigen Pandemie-Kandidaten Vogelgrippe: Das Virus wandert nicht vom Tier zum Menschen, sondern direkt von Mensch zu Mensch. Und dabei könnte das Schwein als der Kochtopf gedient haben, in dem sich Viren-Typen ungestört vermischen, anpassen und damit an Gefährlichkeit zunehmen konnten, wie Professor Stephan Ludwig von der Universität Münster im Gespräch mit DocCheck erläutert. Von der Ähnlichkeit mit den bekannten humanen Influenzastämmen ist dabei nicht mehr viel übrig geblieben, meint der Virologe Hans-Dieter Klenk in einem Spiegel-Online-Interview. Auch die Spanische Grippe von 1918 mit ihrer katastrophalen Opferbilanz könnte das Schwein als Brutstätte für ihre gefährlichen Kinder genutzt haben. In der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Journal of Virology beschreibt eine kanadisch-amerikanische Forschergruppe die erfolgreiche Vermehrung des nachgebauten 1918-Virus - ohne dass die Schweine ernsthaft erkrankten. Eine solche Analogie gibt vielen Fachleuten wie Ludwig zu denken. Wie zu Beginn des letzten Jahrhunderts sind die Erkrankten vor allem im Alter zwischen 20 und 50, weniger die sonst so Influenza-sensiblen Älteren. Bei der spanischen Grippe vermuten die Fachleute, dass bestimmte Virus-Antigene das Immunsystem so stark aktivieren, dass ein "Zytokinsturm" das empfindliche Epithelgewebe der Atemwege zerstörte.
Wiedersehen im Herbst?
Ist die Grippe im Mexiko gefährlicher als anderswo? Die Zahlen der bestätigten Infizierten und die Opferzahlen in Mexiko werden zur Zeit nach unten korrigiert. Warum scheint aber dennoch die Zahl der Todesopfer mit Grippesymptomen so hoch zu sein? Auch hier könnte wieder ein Vergleich zur H1N1-Infektion von 1918 helfen. Professor Haller von der Universität Freiburg weist im Telefongespräch mit dem DocCheck-Autor darauf hin, dass auch bei der damaligen Pandemie eine sekundäre bakterielle Pneumonie die hohen Opferzahlen verursachte. Auch in Mexiko könnten demnach endemische Bakterien eine maßgebliche Rolle bei der Erkrankung gespielt haben. Aber auch der enge Kontakt im dicht bevölkerten lateinamerikanischen Land und mangelnde Hygiene wären denkbare Faktoren.
Was haben wir zu erwarten? In der nördlichen Halbkugel geht die jährliche Grippesaison zu Ende. Influenzaviren dürften es daher in Europa und Nordamerika schwer haben, sich weiter zu vermehren. Alle bisherigen Pandemien hatten hier ihren Höhepunkt im Winter oder Frühjahr. Was aber schlimmer sein könnte: Das Virus verbreitet sich auf der südlichen Hemisphäre, passt sich mehr und mehr dem Menschen an und kehrt als aggressiver Virus im Herbst zurück. Auch Margaret Chan weist in ihrer Rede darauf hin: Von der bisherigen Erfahrung wissen wir, dass Influenza eine milde Krankheit in reichen Ländern auslöst, aber als ernsthafte Erkrankung viel mehr Opfer in den Entwicklungsländern fordert.“ Auch 1918 begann die Spanische Grippe als harmlose Atemwegserkrankung. Die zweite und dritte Welle forderte dann etwa 20 mal soviele Todesopfer wie eine normale Grippe-Epidemie. Bei der derzeitigen Ausbreitung des neuen Influenza-Typs drohe uns nicht mehr Gefahr als bei der „normalen“ Grippe, meint der Leiter des Max-Planck-Instituts für Infektionsbiologie, Stefan Kaufmann. Margaret Chan hält dagegen: „Influenzaviren sind bekannt für ihre schnelle Veränderung und ihr unvorhersehbares Verhalten.“