Elektronische Patientenakten gelten als die Killer-Applikation der Medizin 2.0. Nur: Das tun sie schon seit ungefähr 1990. Passiert ist noch immer wenig, oder etwa doch? Wer braucht eigentlich elektronische Patientenakten? Und wer nutzt sie überhaupt schon?
Mitglieder der deutschen eHealth-Szene blicken in diesen Wochen neidisch in die USA. Dort hat US-Präsident Barack Obama bekanntlich das Gesundheitswesen als eines seiner neuen Kernbetätigungsfelder definiert – beraten von recht wettbewerbsaffinen Systemtheoretikern wie der Buchautorin Professor Elisabeth Teisberg. Sie will das US-Gesundheitssystem retten, indem sie die medizinischen Eirichtungen in einen rigorosen Wettbewerb um eine dabei maximal transparent gemachte Ergebnisqualität entlässt.
E-Health in Deutschland: Für viele ein Fass ohne Boden
In der europäischen Öffentlichkeit weniger beachtet wurden die erheblichen Investitionen, die Obama in die Digitalisierung des Gesundheitswesens und hier vor allem in Patientenakten stecken will. Die Rede ist von hohen zweistelligen Milliardenbeträgen. Kein Wunder, dass den in den USA aktiven Health-IT-Unternehmen plötzlich Dollars aus den Pupillen wachsen. Neben den traditionellen Anbietern von Praxis- und Klinik-Software wittern vor allem Unternehmen wie Google Morgenluft. Der Suchmaschinenanbieter hat bekanntlich mit Google Health eine elektronische Akte im Angebot, die eine grandiose und angesichts der demographischen Entwicklung wohl auch nie mehr versiegende Einnahmequelle werden könnte, falls sich auch nur ein Viertel der US-Amerikaner dazu entschließen würde, derartige Programme intensiv zu nutzen. Doch zurück nach Deutschland: Elektronische Gesundheitsakten sind hier genauso wenig neu wie arztgeführte elektronische Patientenakten. Von einem florierenden Business allerdings kann keine Rede sein: „Nennen Sie mir ein Unternehmen, dass mit Health-IT in Deutschland schon in relevantem Umfang Geld verdient hat“, sagte kürzlich der für Gesundheit zuständige Deutschland-Manager eines großen IT-Unternehmens bei der Health-IT-Messe conhIT 2009. Seinen Namen lesen möchte er in diesem Zusammenhang freilich nicht. Der Satz ist aber symptomatisch für die Stimmung in der Branche. Aktuelles Beispiel dafür ist der Ausstieg von Siemens aus der Produktion von Konnektoren für die elektronische Gesundheitskarte. Begründung: Problematische Kosten-Nutzen-Relation.
Gesundheitsakten: Vegetieren statt existieren
Wie aber sieht es konkret bei den elektronischen Akten aus? Wer nutzt sie eigentlich? Fangen wir an mit den so genannten elektronischen Gesundheitsakten, von denen es mehrere im deutschen Markt gibt. Da ist einmal die Gesundheitsakte von careon, die den Kunden zahlreicher BKKen als Serviceleistung angeboten wird. Zum anderen ist ICW aus Walldorf mit seinem LifeSensor aktiv. Und die CompuGroup platziert über ein Tochterunternehmen ihre vita-X-Akte im Markt. Den Gesundheitsakten ist gemeinsam, dass sie bei im Detail unterschiedlicher technischer Ausgestaltung primär als Langzeitarchiv gedacht sind: Der Versicherte kann gesundheitlich relevante Daten dauerhaft speichern, weitgehend unabhängig vom Behandlungskontext. Angaben zu Nutzungsfrequenzen werden in diesem Segment generell nur hinter vorgehaltener Hand gemacht. Die Zahlen sind allesamt minimal. Careon ist insofern eine Ausnahme, als das Unternehmen die Gesundheitsakte als inhabergeführtes Unternehmen ohne größeren Venture Capital-Hintegrund zu einem Geschäftsmodell gemacht hat und damit sogar Geld verdient – ohne dass irgendjemand damit reich würde freilich. ICW, wo die Gesundheitsakte ebenfalls im Zentrum steht, überlebt im Moment dank Venture Capital und nur deswegen. Bei der CompuGroup veröffentlicht vita-X als Teil des Konzerns keine eigenen Zahlen. Groß angekündigt wurde vor zwei Jahren ein Projekt, bei dem in Rheinland-Pfalz alle Kinder mit vita-X-Akten ausgestattet werden sollten. Dem war bisher kein Erfolg beschert. Die Situation bei vita-X dürfte demnach der bei den anderen Anbietern ähneln: Ein Goldesel ist die Akte sicher genauso wenig wie die Konkurrenzprodukte. Fazit: Die elektronische Gesundheitsakte vegetiert derzeit mehr als dass sie existiert.
EPA-Lösungen: Auch hier viel Schatten
Wie sieht es im zweiten Segment der elektronischen Akten aus, den elektronischen Patientenakten im engeren Sinne. Je nach Kontext werden diese Lösungen auch als Fallakte, Einweiserportal oder Netzakte bezeichnet. Kennzeichen dieser Angebote ist, dass es sich in der Regel um Akten handelt, die auf einen Behandlungskontext bezogen sind, sei es die integrierte Versorgung oder die Versorgung innerhalb eines Ärztenetzes. Auch hier ist nicht alles Gold was glänzt. Die Sana-Kliniken beispielsweise waren so ehrlich, öffentlich zuzugeben, dass ihre Einweiserlösung Galileo von Noemalife nur deswegen auf ausreichendes ärztliches Interesse gestoßen ist, weil den Ärzten der nötige Netzanschluss inklusive laufender Kosten komplett bezahlt wurde. Die Konkurrenz behauptet zwar, sie täte das nicht. Ob das aber so stimmt, sei einmal dahin gestellt. Auch in Ärztenetzen funktionieren e-Akten nicht zwangsläufig. Das Bottroper Prosper-Netz lieferte das Paradebeispiel für eine im diesem Fall von T-Systems gestellte Netzakte, die die Ärzte nicht benutzten, weil sie ihnen zu umständlich war. Als Reaktion darauf wurde das Konzept verändert. Derzeit läuft die zweite Runde.
Und sie funktionieren doch!
Es gibt aber gerade im Bereich der arztgeführten EPA-Lösungen auch gute und funktionierende Akten. Über die redet nur kein Mensch, eben weil sie funktionieren. Das ist etwas schade, denn man kann einiges von diesen Positivbeispielen lernen. Im Amberger Ärztenetz UGOM beispielsweise wird seit Jahren eine dezentrale Akte von medatiXX eingesetzt. Dort werden Unmengen an Dokumenten verschickt, auch weil der Versendeprozess aufgrund der tiefen Integration in die Praxis-EDV-Systeme weitgehend automatisiert abläuft. An der Universitätsaugenklinik Erlangen ist im Rahmen eines Integrationsvertrags für Patienten mit Augenoperationen die Siemens-Lösung Soarian Integrated Care im Einsatz. Diese Akte ist in Erlangen an ein Qualitätsmanagement-Projekt gekoppelt, und ihre Nutzung durch die angebundenen Augenärzte und Kliniken ist gut dokumentiert. Auch elektronische Fallakten, mit denen sich kooperierende Kliniken untereinander vernetzen, funktionieren in aller Regel ausgezeichnet.
Der Lösungsanbieter ist dabei übrigens irrelevant. Alle Anbieter können sowohl über funktionierende Netze als auch über Totgeburten reden, wenn sie denn wollen, denn viele wollen nicht. Entscheidend ist etwas anderes: Gemeinsam ist den funktionierenden Lösungen, dass aus unterschiedlichen Gründen schon vorher ein großer Kommunikations- und Dokumentationsbedarf bestand und nicht – wie bei vielen gescheiterten Projekten – nur politisch unterstellt wird.