Vergessen Sie Dr. House. Echte Ärzte lassen sich ab sofort bei der Arbeit im OP von der TV-Kamera über die Schulter schauen, damit Millionen Fernseh-Zuschauer live dabei sein können. In England hatte die Reality-Show gerade Premiere.
Reality-TV hat eine neue Dimension bekommen. Erstmals konnte die britische Nation chirurgische Eingriffe live bzw. in Realtime am heimischen Fernseher, wahrscheinlich bei Chips and Beer, mitverfolgen. Schauplätze des Geschehens waren OP-Säle kooperativer Krankenhäuser des NHS Trusts. In einer vierteiligen Serie zeigten "world-leading" Chirurgen im Spätprogramm, wie sie einen Herzklappenfehler korrigieren, Gehirntumore entfernen und eine Hiatushernie minimal-invasiv reparieren. Und das ist noch nicht alles. Die Zuschauer konnten während der OP via Twitter, e-Mail oder Telefon die Chirurgen mit laienhaften Fragen löchern. Ausgestrahlt wurde die TV-Serie mit dem Titel "The Operation: Surgery Live" vom britischen Privatsender Channel 4. Leider hat man außerhalb des UK keinen Zugriff auf die gestreamten Podcasts.
Medizin und Wissenschaft transparent machen
Initiator der ersten TV-Show, die Live-OPs sendet, ist der Wellcome Collection Trust mit Sitz in London. Der Trust wurde 1936 von Sir Henry Wellcome gegründet. Inzwischen ist aus dem Unternehmen die größte Charity-Organisation des UK entstanden, die jährlich mit über £600 Millionen wegweisende Medizin-Forschung finanziert. Seit zwei Jahren bietet der Trust in seinen Räumen wiederholt Veranstaltungen an, bei denen interessierte Bürger live und kostenlos OPs mitverfolgen können. "Wir glauben, dass es wichtig ist, Menschen die Möglichkeit zu geben, sich unmittelbar mit der Welt der Medizin und der Wissenschaft zu beschäftigen. Deswegen freuen wir uns über die neue Partnerschaft mit Channel 4", so Clare Matterson, Wellcome Trust Direktor für Medizin, Wissenschaft und Geschichte. Und was verspricht sich Channel 4? "Wir hoffen, dass die Serie dabei hilft, die Chirurgie zu entmystifizieren, dass die Zuschauer lernen, ihren Körper besser zu verstehen, und dass wir die Sorgfalt, das Engagement und die Qualität der modernen Chirurgie vermitteln können," so David Glover, verantwortlich für Wissenschaftsformate auf Channel 4. So viel Uneigennutz bei einem Privatsender? Oder spielen da nicht eher Sensationslust und Einschaltquoten eine Rolle?
Herausforderungen der Chirurgen in Bild gesetzt
Die Chirurgen, die in der neuen Reality-Show auftreten, scheint die "Geschäftstüchtigkeit" von Channel 4 nicht zu stören. Francis Wells, angesehener Herzchirurg am Papworth Hospital, sieht in der TV-Übertragung eine einmalige Chance, dass sich Menschen ein Bild machen können von den Herausforderungen und Fähigkeiten, die tagtäglich von einem Chirurgenteam abverlangt werden. Sein Team ist von Beginn an in die Live Events des Wellcome Trusts involviert. "Die meisten Menschen wissen nicht, was in ihren Körpern vor sich geht. Je mehr sie davon verstehen, um so mehr achten sie auf ihre Gesundheit", erklärt Wells sein TV-Engagement. Hartwig Bauer, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH), ist da eher skeptisch. "Die Erfahrung zeigt, dass der Durchschnittspatient an den Details einer Operation gar nicht so sehr interessiert ist", sagt Bauer. Hinzu komme, dass die OPs, die in der Serie gezeigt werden, sehr komplexe Eingriffe seien, die von einem Nicht-Mediziner schwerlich zu verstehen sind.
Mühsame Kleinarbeit statt "emergency show"
Und was halten deutsche Chirurgen, die Tag für Tag im OP stehen, von der Doku-Soap? Professor Dr. Christian Schneider, Herzzentrum der Uni-Klinik Köln, sieht das ganz pragmatisch: "4 Stunden Fernsehen unterbrochen von 10 Werbespots, um zu sehen, dass eine Herzklappe operiert wird; ich kann mir nicht vorstellen, dass das wirklich attraktiv ist; die OP besteht ja überwiegend aus Routine-Massnahmen, die nicht unterhaltsam sind für einen aussenstehenden Betrachter, ja vielleicht sogar ermüdend. Es ist eben keine "emergency show", sondern mühsame Kleinarbeit". Prof. Dr. M. Karck, Direktor der Klinik für Herzchirurgie Heidelberg, teilte DocCheck mit: "Ich persönlich würde mich extrem zurückhalten und stünde hierfür nicht zur Verfügung". Aber er kann sich vorstellen, dass der eine oder andere Patient dazu bereit wäre. Professor Dr. med. Dr. habil. Werner Mang, Direktor der Bodenseeklinik für Plastische, Ästhetische und Rekonstruktive Chirurgie schließt die Live-OP nicht vollends aus. Aber: "Wenn Live-Operationen eine sachliche Information vermitteln und auf Gefahren und Risiken hinweisen und zur Aufklärung der Patienten beitragen, dann sind diese sicherlich wertvoll. Eine Live-Operation als Doku-Soap zu produzieren, halte ich für problematisch, da eine Live-OP zur Show verkommt".
Live-OP eventuell - Doku-Soap nein
Das Herzzentrum Brandenburg sammelt schon länger Erfahrungen mit Live-Demonstrationen aus dem OP. Zu den Terminen werden auch Laien aus Brandenburg und Berlin eingeladen. Die OP wird auf eine Großbildleinwand übertragen und mit gut verständlichen Vorträgen erläutert. "Unser Ziel ist, seriöse Wissensvermittlung und Aufklärung auf spannende Weise zu vermitteln", erklärt der Chefarzt der Herzchirurgie, Professor Dr. Johannes Albes. Das Interesse an diesen Veranstaltungen sei gewaltig. Albes findet das englische TV-Projekt interessant. "Die Briten trauen sich was". Aber vertretbar sei das nur, wenn es sich im Rahmen absolut seriöser Absichten bewege. Könnte diese Art von Doku-Soap auch finanziell für ein Krankenhaus von Interesse sein? Prinzipiell müsste bei so einem Committment ein Reimbourse drin sein, meint der Chefarzt. Es seien ja schließlich auch die räumlichen Voraussetzungen zu schaffen. Aber Albes bezweifelt, dass man eine derartige TV-Serie auf Dauer institutionalisieren kann oder vor allem will. Und wie sieht das rechtlich bei uns in Deutschland aus? "Ich glaube, rein rechtlich würde so eine Life-Soap auch in Deutschland möglich sein, wenn der Patient und natürlich alle beteiligten Mitarbeiter sowie der Krankenhausträger einverstanden sind". Warten wir ab. Irgendwann wird es auch in Deutschland Privatsender geben, die die Live-OP im Programm haben.