Gehirnareale, die sich zu gemeinsamen Aufgaben zusammenschließen, entladen ihre Aktionspotentiale meist synchron. Ihre Verbindungsachsen nutzen aber nicht nur dem Datenaustausch, sondern sind auch Ausbreitungsweg für Alzheimer und Co.
Mehrere hundert Milliarden Wege mit jeweils tausenden von Abzweigern und Kreuzungen stellen die Verbindung zu wichtigen benachbarten und entfernten Informations-Vertriebsstellen her. Wichtige Daten gelangen so in Sekundenbruchteilen von Überwachungsposten im Orbit zu Strategie-Leitstellen und weiter zu Kommandozentralen für Befehle an die Außenstellen. Letztes Jahr berichtete DocCheck vom Versuch, für das Netz im Gehirn eine Straßenkarte anzulegen. Vor einigen Wochen veröffentlichte nun die angesehene Fachzeitschrift "Neuron" Hinweise, dass die Hauptverkehrsachsen zwischen wichtigen Knotenpunkten im zentralen Nervensystem nicht nur als Datenautobahnen dienen, sondern auch als Wegweiser für Abbruchkommandos neurodegenerativer Krankheiten.
Fünf Krankheiten – fünf Netzwerke
Netzwerke im Gehirn zeichnen sich dadurch aus, dass die zugehörigen Neurone synchron feuern. Und das nicht nur bei der Reaktion auf einen Stimulus, sondern auch im Ruhezustand, wenn sie "ohne Aufgabe" sind. Über diese Eigenschaften lassen sich bei Affen wie auch bei Menschen Gehirnareale bestimmen, die über Nervenbahnen eng miteinander verknüpft sind. William Seeley und seine Kollegen aus dem kalifornischen Stanford sowie Michael Greicius aus San Francisco zeigten nun mithilfe funktioneller Magnetresonanz, dass Alzheimer , aber auch andere neuro-degenerative Leiden wie etwa die Behavioral-Variante der frontotemporalen Demenz (bvFTD), zumindest im "early-onset" Stadium im Alter um 60 ihr Zerstörungswerk entlang dieser Netzwerke ausüben.
In einem Editorial zu der Arbeit beschreibt Marsel Mesulam aus Chicago einige Beispiele solcher Netzwerke. Das wohl bestuntersuchte ist das frontoparietale Netzwerk selektiver visueller Aufmerksamkeit, das Regionen im frontalen Augenfeld und im unteren Parietallappen verbindet und Ereignisse im Raum und ihre Reaktion darauf steuert. Weil neben diesen beiden Zentren auch noch andere Regionen verknüpft sind, können Signale vom einen Ende der Datenbahn zum anderen über mehrere unterschiedliche Wege gelangen. Damit wird eine flexible Antwort auch auf große Informationsmengen möglich.
Bereits in früheren Studien hatten Neurologen gezeigt, dass sich die Zerstörungen bei der Alzheimer-Krankheit entlang solcher Bahnen ausbreiten. Seeley pickte sich nun fünf Krankheiten heraus, die im Lauf der Zeit immer mehr Gehirnmasse zerstören. Die Regionen mit zunehmender Atrophie verglich er nun mit seinen Kontrollen gesunder Patienten. Synchrone BOLD-Frequenzen (Veränderungen im Anteil von Oxy-Hämoglobin, die mit Magnetresonanz gemessen werden, daher Blood-oxygen-level-dependency) im „aufgabenfreien“ Zustand kennzeichneten dabei in seinen Experimenten die verknüpften Gebiete.
Jede der untersuchten Krankheiten markierte in diesen Studien ein Netzwerk, das auch bei Gesunden zu finden war. So korrespondiert etwa Alzheimer eng mit dem "Default Mode Network", das bei der Bildung des episodischen Gedächtnis wichtig ist. Aber Seeley fand noch mehr heraus: Nicht nur die Ausbreitung von Krankheiten korrespondiert mit den Informationsstraßen im Gehirn, sondern auch die "Bevölkerungsdichte". So fanden sich in bei seinen gesunden Probanden in den verschiedenen Netzwerken ganz ähnliche Dichten an grauer Substanz, also neuralen Zellkörpern. Damit bestätigte er wiederum Hinweise, dass synchrones Feuern von Neuronen die Neubildung von Synapsen in den entsprechenden Gebieten eines Netzwerks anregt.
Wege für Boten, Viren, Prionen und Gifte
Was aber bedeuten nun diese Ergebnisse? Netzwerke im Gehirn transportieren nicht nur Daten, sondern dienen auch als Wege für Botenstoffe (wie Nerve Growth Factor NGF), Viren (Polio) oder auch Toxine (Tetanus). Auch bei Prionen-Krankheiten, "wandern“ die Ablagerungen entlang dieser Straßen. Ob sich die Krankheit ihren Ausgangspunkt an einer "Schwachstelle" im Gehirn sucht und sich dann entlang diesen leicht zerstörbaren Zielen weiterhangelt, ist noch nicht klar. Besonders Gebiete mit einer hoher Dichte an Nervenverbindungen sind aber bei Alzheimer-Patienten deutlich empfindlicher gegen Amyloid-Ablagerungen und damit einem Funktionsausfall. Möglicherweise reicht es schon aus, Netzwerkverbindungen zu kappen, um Zentren auf der "anderen Seite" zur Degeneration zu bringen. Jede der untersuchten Krankheiten hatte sich in diesen Studien ihr eigenes "Zielgebiet" ausgesucht und schädigt ein anderes Netzwerk.
Und die praktische Anwendung? Wer die Kriterien kennt, nach denen sich neurodegenerative Krankheiten ihren Ausgangspunkt suchen, um sich von dort weiter auszubreiten, hat viel mehr Möglichkeiten, sie schon im Frühstadium zu beobachten. Das wäre dann ein erster Schritt hin zu einer rechtzeitigen zielgerichteten Therapie. Bis dahin warten die Beobachtungen aus Kalifornien erst einmal auf eine Bestätigung in weiteren Studien. Seeley und Greicius denken dabei etwa an prospektive Untersuchungen jüngerer Probanden mit genetischen Risikofaktoren für Alzheimer oder frontotemporaler Demenz. Auf jeden Fall sind verschiedene Bereiche des zentralen Nervensystems wohl nicht nur mit Bahnen zur Datenübertragung verbunden. Vielmehr bilden sie trotz beachtlicher Entfernungen oft auch eine Schicksalsgemeinschaft in guten und in schlechten Zeiten. Die Autoren drücken es in ihrem Artikel so aus: "Es scheint so dass Regionen, die zusammen feuern, auch zusammen wachsen oder untergehen".