Stell dir vor es ist Pandemie und kein Arzt geht hin. Was komisch klingt, beschäftigt Experten: Einer Umfrage zufolge würden nur 15 Prozent der Kittelträger bei einer Pandemie ihren Krankenhausdienst antreten - aus Angst. Das Problem: Die Pandemie ist schon da.
Minutiös bereitete sich die Bundeshauptstadt auf eine kommende und schwere Grippe-Pandemie vor: Die Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz aktualisierte bereits 2008 den Rahmenplan Influenza Pandemie. "Es gilt als wahrscheinlich, dass es in absehbarer Zeit zu einer erneuten weltweiten Influenza-Epidemie (Pandemie) kommen wird", hieß es damals aus Berlin – nun hat die WHO den Worst Case bestätigt, H1N1/A gilt seit dem 12. Juni als Pandemie. Den Berliner Rettungsplan werden Epidemiologen in den kommenden Wochen umarbeiten müssen. Denn nahezu alle Pandemie-Bekämpfungspläne berücksichtigten bisher lediglich die Ansteckung des medizinischen Personals als Ausfallkriterium - "medizinische Fahnenflucht" als Risikofaktor blieb auf der Karte der nötigen Maßnahmen ein weißer Fleck.
Womöglich ein fataler Fehler. Gleich mehrere Publikationen belegen nämlich, dass signifikante Teile von Krankenhauspersonal und Ärzten „desertieren“ würden, wenn es die Lage erfordert. „Scharenweise“ sei der Exodus der Mediziner in Großbritannien zu erwarten, stellen Gesundheitsforscher fest. Tatsächlich tragen die im BMC Public Health sowie BMC Health Service Research gemachten Aussagen wenig zur allgemeinen Beruhigung bei. Auch auf der anderen Seite der Welt kommen Fachleute im Medical Journal of Australia zu ähnlichen Ergebnissen: Allein in den USA blieben im Fall des Falles bis zu 50 Prozent des dringend benötigten Personals vermutlich zu Hause, wenn die Erreger eine große tödliche Bedrohung darstellten.
Schutz der Familie geht vor
Die jetzt erstmals erkennbare Arbeitsabstinenz hat handfeste und vor allem nachvollziehbare Gründe – an denen in erster Linie die gesundheitspolitischen Entscheidungen der jeweiligen Länder schuld zu sein scheinen. Denn Krankenhauspersonal ist zwar, auch hierzulande, im Falle einer Pandemie, nach dem Stand der Medizin bestmöglich geschützt. Krankenschwestern, Ärzte und Hilfskräfte erhalten als erste die nötigen Impfungen, sobald diese verfügbar sind. Auch verfügen Mediziner, anders als der Durchschnitt der Normalbevölkerung, über Atemschutzmasken der Klasse FFP3, die H1N1/A Viren abhalten. Doch Angehörige von Ärzten und anderen Krankenhausangestellten bleiben von derartigen Schutzmaßnahmen ausgeschlossen, wie Sarah Damery von der University of Birmingham kritisiert.
Das Expertenwissen des Krankenhauspersonals über die Folgen des fehlenden Schutzes der eigenen Familie führe daher zwangsläufig zur Arbeitsabstinenz, folgern die Forscher. Eine Untersuchung am St. John Hospital and Medical Center in Detroit bestätigt diese Annahme. Ärzte, Krankenschwestern und weiteres Hilfspersonal zeigten sich selbst dann unmotiviert, als ihnen mehr Geld in Aussicht gestellt wurde – aus Sicht der Wissenschaftler ein klarer Indiz dafür, dass lediglich bessere Schutzmaßnahmen für die Angehörigen zu weniger medizinischen „Deserteuren“ führen könnten.
Nicht nur Mediziner desertieren
Dass Mitarbeiter auch jenseits medizinischer Berufe so agieren, zeigte eindrucksvoll Neuauflage der Studie Themenkompass Pandemie 2008, die im Auftrag des IMWF Instituts für Management- und Wirtschaftsforschung und des F.A.Z.-Instituts im vergangenen Jahr erstellt wurde. Danach gehen die Autoren davon aus, dass bei einer Erkrankungsrate von 30 Prozent der Bevölkerung gut die Hälfte der Mitarbeiter eines Unternehmens zu Hause bleibt. Ein besonders kritisches Planungskriterium ist laut Studie der zusätzliche Ausfall von Mitarbeitern. Denn im Pandemiefall müssten Unternehmen damit rechnen, "dass deutlich mehr Personal nicht zur Arbeit erscheint, als tatsächlich erkrankt ist". Einschränkungen im öffentlichen Nahverkehr, die Betreuung erkrankter Familienangehöriger oder auch vorsorgliches Fernbleiben vom Arbeitsplatz werden von den Experten als zusätzliche Risikofaktoren genannt.
Solche Verhaltensformen sind demnach weder unbekannt, noch unnatürlich – nur wurden sie Ärzten und medizinischen Berufen bislang schlichtweg abgesprochen. Die Erkenntnis, dass Ärzte ihre Kinder und Lebenspartner ebenso vor tödlichen Viren schützen möchten wie der Rest der Bevölkerung, ließe sich daher als Lösung des Problems angehen. Doch dazu müssten allein die obligatorischen Impfdosen um ein Vielfaches erhöht werden.
Dass die Angst des Krankenhauspersonals durchaus berechtigt ist, demonstriert ein Blick in die jüngste Vergangenheit. Nur wenige Tage nach Ausbruch der Schweinegrippe-Epidemie in Mexiko waren bereits 500 Ärzte mit dem Erreger infiziert worden, wie Sanchez Arriaga von der mexikanischen Gewerkschaft National Independent Union of Health Workers im April beklagte. Ein Vakzin gegen H1N1/A hatten die Doktoren ebenso wenig wie ihre Familien erhalten – der schützende Impfstoff war eben noch nicht existent.