Die Publikation ist mehr als brisant: Schweizer Mediziner dokumentieren einen Fall von extrem hoher HIV-Übertragung auf heterosexuelle Partner und sprechen dabei von sogenannten Super-Sheddern. Droht eine neue HIV Ansteckungswelle?
Poster 454 fiel in Boston kaum auf, nur wenige Tage nach der „10th Conference on Retroviruses and Opportunistic Infections“ gerieten die Ergebnisse der Mediziner von der University of Birmingham in Vergessenheit. Akribisch hatten die Forscher an jenem 11. Februar 2003 von 73 HIV-Infizierten Männern berichtet, die im Sperma eine extrem hohe Virenkonzentration aufwiesen – und nannten diese Patientengruppe fortan Super-Shedder.
Sechs Jahre später bekommt die Bostoner Präsentation endlich eine klinische Relevanz – mit womöglich weitreichenden Folgen. Denn Petro Vernazza vom Kantons Hospital St. Gallen gelang es mit Genfer Kollegen, die Historie eines Super-Shedder im Detail zu rekonstruieren. Bittere Erkenntnis: Der HIV-positive Patienten infizierte zwischen 2000 und 2007 durch ungeschützten Sex alle seine fünf Partnerinnen nacheinander mit dem tödlichen Virus. Nun rätseln Vernazza und Co-Autorin Andrea Witteck vom Virologischen Institut der Uni Genf über die Ursachen der Powerinfektionsrate.
Tatsächlich ist die Ansteckung aller Partnerinnen schon aus statistischer Sicht ungewöhnlich. Auf 1:10.000 beziffern die Schweizer Mediziner im Fachblatt Swiss Medical Weekly die normalerweise auftretende Häufigkeit für so eine Konstellation. Das sei daher ein „außergewöhnlicher Fall“, konstatieren die Autoren. Noch rätselhafter erweist sich ein weiteres Detail der Patientenakte. Obwohl sich der Mann im Jahr 2006 einer Vasektomie unterzog steckte er zwei Frauen an.
Rätselhafte Super-Shedder
Die praktisch 100-Prozentige Infektionsrate durch die Virenzahl allein zu erklären fällt daher schwer. Zwar liegt die Virenlast im Sperma bei Super-Sheddern um eine ganze Zehnerpotenz oberhalb der Virenkonzentration im Blutplasma, was die enorm hohe Infektionsrate erklären würde, nur: Spätestens nach der erfolgreichen Durchtrennung der Samenleiter müsste dieser Aspekt nicht mehr ins Gewicht fallen. „Die Gründe für die hohe Ansteckungsrate sind unbekannt“, konstatieren daher Vernazza und Witteck – und weisen auf weitere Kuriositäten der Super-Shedder hin.
So scheinen die hohen HI-Virenkonzentrationen im Sperma mit anderen Geschlechtserkrankungen einherzugehen: In den letzten Jahren nehmen andere sexuell übertragbaren Krankheiten (STD) wie Syphilis, Gonorrhö, Chlamydien kontinuierlich zu. "Sobald eine STD-Infektion vorliegt, steigt die Übertragungswahrscheinlichkeit von HIV pro Sexualkontakt um ein Mehrfaches", warnten daher deutsche Fachleute der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) bereits im Mai 2008 die Bevölkerung. Epidemiologische Befunde stützen diese Annahme, weltweit. So wiesen HIV-Infizierte Männer mit Urethritis in Afrika acht Mal höhere Samen-Virenkonzentrationen auf als jene, die nicht an der Schleimhaut-Entzündung der Harnröhre litten. Doch auch in dieser Hinsicht stellt der Schweizer Patient die Ärzte vor einem Rätsel, denn an sexuell übertragbaren Erkrankungen außer HIV litt er nicht. Selbst die Frage, inwieweit sich Super-Shedder selbst mit neuen, ansteckenderen Viren-Stämmen infiziert haben könnten, blieb bisher ungeklärt. Fest steht: Die Existenz der Super-Shedder dürfte indes die bisherigen Nachrichten rund um HIV in ein neues Licht stellen.
Erst Mitte Mai hatte Manuel Battegay, Leiter der Klinik für Infektiologie und Spitalhygiene am Universitätsspital Basel auf der Jahresversammlung der Schweizerischen Gesellschaft für Innere Medizin (SGIM) die Errungenschaften der Schweizer HIV-Kohorte vorgestellt. Die 1998 vom Bundesamt für Gesundheit ins Leben gerufenen Langzeitbeobachtungsstudie, in der zurzeit 7300 HIV-Infizierte im Alter von 16 bis 82 Jahren betreut werden gilt als wichtigste ihrer Art. „Die größte Zunahme bei den Teilnehmern der HIV-Kohorte verzeichnete in den letzten Jahren die Gruppe der 41- bis 50-Jährigen", sagte der Infektiologe.
Die Angaben dürften vor allem Beobachter der Super-Shedder These interessieren: Poster 454 in Boston stellte bereits vor sechs Jahren fest, dass die Hochinfektiösen Männer im Durchschnitt 48 Jahre alt waren.