Sie tauchen ab in virtuelle Welten, verlieren den Bezug zur Realität, zu Job, Familie und Freunden. Extremfälle sind auch in Deutschland reihenweise bekannt. Diese Menschen sind süchtig ohne offizielle Anerkennung ihrer Krankheit. Das kann zu umstrittenen Therapien führen, wie in China Elektroschocks. In Deutschland wird noch debattiert, aber auch pragmatisch vorgegangen.
Für verzweifelte Eltern ist der chinesische Psychiater Yang Yongxin so etwas wie ein Guru. Scharenweise vertrauen sie ihm ihre onlinesüchtigen Kinder an. Yang hatte vor einigen Jahren in der Provinz Shandong ein Behandlungszentrum für Internetsüchtige gegründet. Für stolze 600 Euro pro Monat, dreimal so viel wie das durchschnittliche Einkommen in China, therapiert er seitdem jugendliche Internetsüchtige. Seine Methoden sind in der chinesischen Ärzteschaft umstritten. Kürzlich wurde zusätzlich bekannt, dass Yang bei seinen jungen Suchtpatienten auch regelmäßig Elektroschocks anwendet. Ehemalige Patienten berichteten über ihre Erfahrungen ausgerechnet in dem Medium, gegen das sie eigentlich immun sein sollten. Im World Wide Web. Ärzte, wie Tao Ran, Mediziner im Militärkrankenhaus in Beijing und führender Suchtexperte, distanzierten sich jetzt auch öffentlich von dieser Therapieform. Tao war maßgeblich an der Erarbeitung eines Diagnostischen Handbuchs zur Internetsucht beteiligt, das Ende letzten Jahres dem chinesischen Gesundheitsministerium vorgelegt wurde. Ziel ist die offizielle Anerkennung der Internet Addiction Disorder (IAD) als klinische Krankheit.
China forciert Anerkennung der Internetsucht als Krankheit
Als gefährdet gilt in China laut offizieller Definition, wer täglich mehr als sechs Stunden online ist und Symptome von Stress, Konzentrations- oder Schlafstörungen und besondere Gereiztheit, wenn der Internetzugang nicht verfügbar ist, zeigt. Laut Tao hat China größere Probleme mit der Onlinesucht als westliche Länder. Die Experten gehen davon aus, dass zehn Prozent der 40 Millionen jugendlicher Internetnutzer süchtig nach dem Medium sind – Tendenz steigend. Betroffen sind laut Statistiken insbesondere Kinder von alleinerziehenden Müttern, die wegen ihrer Jobs zu wenig Zeit für ihre Kids haben, Arbeiterfamilien, die Leistungsdruck ausüben, damit ihre Kinder einen Zugang zur Universität erlangen, und zerrüttete Familienverhältnisse. Tao Ran ist zuversichtlich, dass es mit der Anerkennung der Internetsucht als Krankheit noch in diesem Jahr klappen wird. China wäre dann das erste Land. Auch in Südkorea, wo 90 Prozent der Haushalte Zugang zum Breitbandinternet haben, kämpft man gegen das Suchtproblem. Staatlich bezahlte Camps sollen den jungen Koreanern helfen, von ihrer Besessenheit loszukommen.
Deutsche Regierung reagiert abwartend
So weit ist man in Deutschland noch nicht. Aber das Thema Suchtgefahr im Web ist immerhin in der Politik angekommen. Im April vorigen Jahres hatte der Ausschuss für Kultur und Medien des Deutschen Bundestags zu einer öffentlichen Anhörung geladen. Anlass war der Antrag der Grünen, Medienabhängigkeit bzw. Onlinesucht als eigenständige, nicht stoffgebundene Suchtform anzuerkennen. Der Antrag wurde von den Regierungsparteien abgelehnt. Man wolle erst einmal das vom Gesundheitsministerium in Auftrag gegebene Gutachten – Arbeitstitel "Beratungs- und Behandlungsangebote zum pathologischen Internetgebrauch in Deutschland" - abwarten. Aber ganz untätig will man auch nicht bleiben. Erstmals wurde im jährlichen Drogenbericht 2009 zum Thema "Computerspiel- und Internetsucht" Stellung genommen. Darin heißt es unter anderem: "Mangels ausreichender wissenschaftlicher Expertise ist "Onlinesucht" bisher international noch nicht als eigenständiges Krankheitsbild anerkannt, weshalb noch keine Statistiken zur Häufigkeit in der Bevölkerung vorhanden sind. Gleichwohl sieht die Bundesregierung im problematischen Internetgebrauch ein reales, ernst zu nehmendes Problem". Auch die diesjährige Jahrestagung der Drogenbeauftragten ist dem Thema Internetsucht gewidmet. Unter den angekündigten Referenten sind auch Mediziner aus Südkorea und China.
Deutsche Kliniken reagieren pragmatisch
Wie groß die Zahl der pathologisch Gefährdeten in Deutschland tatsächlich ist, darüber gibt es bisher nur Vermutungen. Gabriele Farke, Onlinesucht-Beraterin und Initiatorin des Selbsthilfe-Portals Onlinesucht.de, schätzt, dass etwa zwei Millionen Menschen von dem Problem betroffen sind. Als Suchtpotential gilt seitens Regierung die exzessive Nutzung von Onlinespielen wie World of Warcraft sowie von Chats und der dranghafte Konsum von Sex-Inhalten. Problematisch sei, so im Drogenbericht zu lesen, dass derzeit das "Ursache- und Wirkungsgefüge" weitgehend unerforscht ist. Grund genug, das Thema Anerkennung der Krankheit auf die lange Bank zu schieben? Einige suchterfahrene Kliniken und Beratungsstellen zeigen, das es auch ohne offizielle Anerkennung funktioniert. Die Fachkliniken Nordfriesland beispielsweise bieten seit kurzem ein spezielles Behandlungsprogramm an mit Ärzten, die sich mit den virtuellen Lebenswelten auseinandergesetzt haben. Das heißt, sie sprechen die gleiche Sprache wie ihre Patienten. Bei den Kriterien für den pathologischen Internetgebrauch (PIG) greifen sie auf Definitionen zurück, die bereits 2001 in der SSI-Studie vorgeschlagen wurden: Einengung des Verhaltensraums, Kontrollverslust, Toleranzentwicklung, Entzugserscheinungen sowie negative soziale und persönliche Konsequenzen. Die Friesen ordnen außerdem das Krankheitsbild den "Abnormen Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle" der ICD 10 (Internationale Klassifikation von Krankheiten) zu. Die Krankenkassen, so ist zu hören, seien zunehmend bereit, für die Behandlungskosten aufzukommen.
Ohne Anerkennung der Krankheit handlungsfähig
Das Gesundheitsministerium beauftragte das Deutsche Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf mit dem erwähnten Gutachten. In einem Zwischenbericht kommen die Forscher zu dem Schluss: "Die Ähnlichkeit der Symptome des Pathologischen Internetgebrauchs mit dem Pathologischen Spielen oder der Substanzabhängigkeit legt es nahe, in der Behandlung dieser Störungen bewährte verhaltenstherapeutische Methoden einzusetzen". Es sei allerdings auch dringend notwendig, die eingesetzten Methoden wissenschaftlich in ihrer Effektivität zu beforschen. Und was heißt das für die Anerkennung der PIG als Krankheit? Wann wird es so weit sein? Oder ist die Anerkennung gar nicht so dringend erforderlich, weil pragmatische Wege bereits zur Realität gehören. DocCheck fragte nach bei Prof. Dr. med. Rainer Thomasius, ärztlicher Leiter der DZSKJ und des Gutachtens. Seine Antwort: "Ob in den Revisionen der psychiatrischen Diagnosesysteme bzw. Klassifikationssysteme ICD-10 (in Deutschland) bzw. DSM-IV (USA) der PIG zukünftig als eigene diagnostische Entität auftauchen wird, wird unter Experten derzeit diskutiert, die sich mit Revisionsfragen beschäftigen. Ich wage hier keine Prognose abzugeben. Bereits heute kann der PIG (unspezifisch) als so genannte Impulskontrollstörung verschlüsselt und somit im Rahmen krankenversicherungsrechtlicher Bestimmungen behandelt werden. Hinzu kommt, dass fast alle jungen Patienten/innen mit einem PIG zusätzliche (komorbide) psychische Störungen aufweisen (Angststörungen, soziale Phobien, depressive Störungen, Persönlichkeitsstörungen, Störungen in der Entwicklung des Verhaltens und der Emotionen bei Jüngeren), welche ebenfalls eine Behandlungsindikation stellen und eine (kinder- und jugend)-psychiatrische / psychotherapeutische / suchttherapeutische Therapie ermöglichen".