Rund ein Dutzend Medikamente darf der Arzt seinem Patienten nicht ohne vorherigen Test verschreiben. Das Genprofil gibt Auskunft, ob er den Wirkstoff verträgt und wie viel er davon benötigt. Aber auch, ob sich der Einsatz der teuren Arznei überhaupt lohnt.
Der Fall ereignete sich an der Universitätsklinik Bonn. Nach einer Tumoroperation litt der 66-jährige Patient unter Schmerzen und erhielt das Opioid Tramadol. Die Wirkung war jedoch anders als gewünscht. Einige Stunden später war der Patient nicht mehr ansprechbar, sein Atem stockte. Erst nach einer Gabe von Naloxon kam er wieder zu sich und bestätigte damit die Vermutung einer Opioid-Intoxikation. Was war geschehen? Ein Gentest brachte die Aufklärung: Im Erbgut des Schmerzgeplagten fand der Test zusätzliche Kopien des Gens CYP2D6. Sein Stoffwechsel wandelte Tramadol extrem schnell in die aktive Form um, daher war die "Standardgabe" des Schmerzmittels viel zu hoch.
2008 erhielt die Ärztin, die diesen Fall beschrieb, den deutschen Schmerzpreis für ihre Forschungen: "....insbesondere zum Verständnis der individuellen Reaktionsweise und Wirkungsweise von Opiaten", so die Laudatio für Ulrike Stamer. Ihre Arbeiten haben "Patienten, bei denen gängige schmerztherapeutische Maßnahmen wirkungslos blieben, auch unter Einbeziehung moderner Therapierichtlinien Perspektiven gegeben.“
Pharmakogenetik ist unverzichtbarer Bestandteil der Arzneimittelentwicklung geworden. "Dass jedes Medikament heilt - soweit sind wir noch lange nicht", sagt Klaus Lindpaintner, Chef der Molekularmedizin bei Roche auf der Tagung „Forum Life Sciences 2009" in München. Denn selbst gute Medikamente helfen meist nur drei von vier Patienten, andere oft nur einem von drei. Nicht selten sind die Beschwerden aufgrund von Nebenwirkungen schlimmer als die Krankheit selber. Wen es dabei trifft, ist nur ganz selten vorherzusagen. Schließlich steigen mit Warnungen und Rückrufen auch die Anforderungen der Zulassung immer weiter. Und so produzieren immer mehr Arzneimittelhersteller lieber den "Maßanzug" mit besserer Passform als die Universalpille für das entsprechende Leiden. Vor allem Krebs und Infektionen mit dem HIV-Virus sind die Ziele von Wirkstoffen, die der Arzt erst nach einem Gentest verschreiben sollte. Elf Präparate listet der Zukunftsreport "Individualisierte Medizin und Gesundheitssystem" des Büros für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages auf, bei denen ein Test vorgeschrieben ist, bei dreien wird er empfohlen.
Genetisches und molekulares Konzept
Zwei Prinzipien beherrschen die Entwicklung von Medikamenten und der dazugehörigen Diagnostik: Beim genetischen Konzept, wie etwa bei Medikamenten, die von Cytochrom-P450-Enzymen metabolisiert werden, ist die Wirkung der Arznei von Allelen abhängig, die nichts mit der Krankheit zu tun haben. Besonders betrifft das etwa Schmerzmittel und Antidepressiva, aber auch beispielsweise Tamoxifen für den Einsatz bei Brustkrebs. Das Enzym aktiviert den inaktiven Vorläufer. Bei den "Langsam-Verstoffwechslern" ist dadurch die Rezidivrate etwa doppelt so hoch wie bei Patienten mit normaler Enzymaktivität.
Beim molekularen Konzept ist der genetische Hintergrund eng mit der Krankheit verbunden. So hängen etwa die Chancen einer Brustkrebs Patienten eng mit der Expression des HER2-Gens zusammen. Bei etwa zwei Drittel aller Betroffenen ist der Faktor vervielfacht. Der aggressive Tumor verkürzt die Lebenszeit im Vergleich zu Frauen ohne die Amplifikation ganz erheblich. Mit dem therapeutischen Antikörper Trastuzumab hat Roche einen Wirkstoff auf dem Markt, der das Genprodukt angreift. Allerdings hat der Einsatz nur bei einem entsprechenden Signal eines HER2-Tests einen Sinn.
Seit kurzem ist diese Strategie für Roche noch attraktiver: Auf der Tagung der amerikanischen klinischen Onkologen vor einigen Tagen berichteten Referenten, dass der Antikörper auch Patienten mit metastasierendem Magenkrebs hilft. Bei einer durchschnittlichen Überlebenszeit von weniger als einem Jahr schenkt ihnen "Herceptin" immerhin etwa 3 Monate.
Allele im Zielgebiet und bei der Wirkstoff-Aktivierung
Bei dem besonders in Vereinigten Staaten gebräuchlichen Antikoagulans Warfarin spielt ebenfalls der genetische Hintergrund eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, ob der Patient mit der Standarddosis auskommt oder eine vielfach höhere oder geringere Menge benötigt. Bei einer Überdosierung kommt es leicht zu Blutungen, bei einem Zuwenig zu Thromben. Eine Studie kam nach der Untersuchung von rund 1500 schwedischen Probanden zu dem Schluss, dass ein Polymorphismus des VKORC Gens (Vitamin K Epoxid Reduktase Komplex), dem Ziel von Warfarin, zu etwa einem Drittel zur Variation der benötigten Dosis beiträgt. Aber auch Polymorphismen bei der Verstoffwechslung des Wirkstoffs durch das P450-System sollten bei der Dosisbestimmung analysiert werden. Sie bestimmen zu rund 15 Prozent die wirksame Dosis.
In den USA sind etwa 1500 zum Teil noch experimentelle pharmakogenetische Tests auf dem Markt, die die Wirkung von neuen Arzneien vorhersagen sollen. Einer der bekanntesten dürfte Roche's Amplichip CYP450 sein, der 29 verschiedene Allele des wichtigen CYP2D6 Gens und zwei Allele von CYP2C19 erkennt. Seit 2003 ist dieser Test bei der amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA zugelassen, allerdings auch sehr teuer. Vorerst konzentriert sich sein Einsatz daher vor allem auf Psychopharmaka und kardiovaskuläre Wirkstoffe, bei denen er Fragen nach Dosis und Nebenwirkungen beantworten kann.
Jedes Rezept erst nach Gentest?
Der Entwicklungswettlauf für Diagnostika und Biomarker parallel zu entsprechenden Medikamenten birgt gerade in Zeiten des knappen Geldes auch seine Tücken. Anfang dieses Jahres musste die weltweit größte Firma für Labortests ihre Ergebnisse für Tausende von Patienten zurückrufen. Statt des zertifizierten Vitamin-D Tests hatte sie einen hauseigenen verwendet, dessen Resultate unzuverlässig waren. Es war die bisher größte Rückrufaktion für Diagnostika.
"Individualisierte Medizin hat das Potential, die Qualität und die Erfolgsquoten von Behandlungen entscheidend zu verbessern" sagt Cornelia Yzer, Geschäftsführerin der Verbands forschender Pharma-Unternehmen. "Sie ist gut für die Patienten, denen dadurch unnötige Behandlungsversuche oder schwerwiegende Nebenwirkungen erspart bleiben." Medikamente, die zuverlässiger wirken, würden auch zuverlässiger vom Patienten eingenommen, meint Klaus Lindpaintner. Der Zukunftsbericht des Büros für Technikfolgenabschätzung sieht ein großes langfristiges Potential für die Paarung von Gentest und Wirkstoff bei der individualisierten Medizin in den nächsten 15 bis 20 Jahren.
Mit der Entwicklung neuer Techniken zur DNA-Analyse werden auch die Kosten für die schnelle Diagnostik vor der Verschreibung des Wirkstoffs fallen. Das bedeutet dann, dass sich der Aufwand für den Test nicht nur für Antidepressiva zu Langzeit-Einnahme, teure Medikamente bei Krebs oder einer HIV-Infektion lohnt, sondern vielleicht auch für die normale Kopfschmerztablette. Vielleicht wird sogar in einigen Jahren die Komplettsequenzierung unseres Genoms zu Routine. Fälle wie der an der Bonner Uniklinik würden dann kaum mehr vorkommen.