Vitamin B9, bekannter unter dem Namen Folsäure, lässt sich bei gemüsearmer Kost bequem als Pille und direkt als Lebensmittel-Zusatz verwenden. Dann verringert es zuverlässig Missbildungen bei Neugeborenen. Das beweisen große Studien. Aber es fördert auch die Vermehrung von Krebszellen.
Eigentlich schien alles auf eine wunderbare Erfolgsgeschichte hinauszulaufen. Genauso, wie Fluor in der Zahnpasta unser Gebiss rettet, wurde Folsäure in Mehl, Nudeln und Salz zum Schutzengel aller Schwangeren. In einer Gesellschaft, die immer häufiger das Chili aus der Dose und die Currywurst an der Ecke einer aufwändigen Gemüseküche vorzieht, beugt das B-Vitamin im Lebensmitteln Missbildungen bei Neugeborenen vor. Nach rund zehn Jahren Erfahrung bei der Anreicherung von Lebensmittel in Kanada verkündete das New England Journal of Medicine 2007 einen Rückgang von Neuralrohrdefekten um rund die Hälfte, eine ungarische Untersuchung brachte es bei Multivitaminpillen sogar auf 90 Prozent. Diese Daten haben bisher 67 Staaten überzeugt, Folsäure zu Grundnahrungsmitteln dazuzumischen.
Doch auf einmal trüben neue Nachrichten die Sonne über dem strahlenden Paradestück staatlicher Gesundheitsvorsorge. Vor einigen Jahren fiel Epidemiologen auf, dass in den Ländern, die eine Anreicherung eingeführt hatten, auch die Krebsrate stieg. Noch in den achtziger Jahren schien genau das Gegenteil wahr zu sein. Damals waren Wissenschaftler überzeugt, dass das "Wundervitamin" Krebserkrankungen verhindere.
Blattgemüse wie Spinat, Feldsalat oder auch Brokkoli enthalten größere Mengen des Vitamins. 0,4 Milligramm empfehlen deutsche Ernährungswissenschaftler pro Tag, bei Schwangeren darf es ganz besonders in den ersten Wochen auch ruhig das Doppelte sein. Wer sich aber die Ernährungsbilanz des Durchschnittsdeutschen anschaut, kommt auf weniger als 300 Mikrogramm. Das ist für die ersten vier Wochen einer Schwangerschaft zu wenig. Die Folge: Erhöhtes Risiko für eine Spina bifida, Anencephalie oder Herzfehler beim Baby.
Höhere Krebsrate anstatt Prävention
Im Juni 2007 erschien im Journal of the American Medical Association (JAMA) ein Artikel von Bernard Cole und seinen Mitarbeitern der Polyp Prevention Study Group, dass die Gabe von einem Milligramm Folsäure pro Tag das Risiko eines kolorektalen Adenoms um rund 10 Prozent ansteigen ließ, das für eine entsprechende Läsion gar um 30 bis 60 Prozent je nach Follow up. Das Ergebnis schreckte alle auf, die bisher gedacht hatten, zusätzliche Vitamine zur Nahrungsergänzung könnten keinesfalls schaden.
Und es kam noch schlimmer: Im Frühjahr dieses Jahres veröffentlichte Jane Figueiredo von der Universität in Los Angeles eine Analyse einer früheren Studie zu Folsäure-Supplementen. "Relative Risk = 1,63" lautete die Prognose für ein Prostata-Karzinom bei Männern, die zusätzliche Folsäure zu sich nahmen. "In den letzten zwanzig Jahren habe ich geforscht und auch in Veröffentlichungen gezeigt, dass zu wenig Folat das Risiko für einige Krebsarten erhöht", sagt Joel Mason, Professor an der Tufts University in Boston, "Aber seit kurzem wird es offenbar, dass es mit dieser Wechselbeziehung nicht so einfach ist, wie wir uns das gedacht haben." Denn auch in Chile steigt die Darmkrebsrate seit der Folsäure-Anreicherung.
Schlüssel in die Tumorzelle
Schon seit den vierziger Jahren weiß man, dass hohe Folsäure-Gaben das Risiko von Leukämien bei Kindern erhöhen. Ein Bericht einer Freiburger Arbeitsgruppe in Anticancer Research zeigt, dass Rezeptoren für Folat bei Ovarialkarzinom-Zellen stark überexprimiert werden. Schließlich kann Folsäure sogar als Schlüssel für Wirkstoffe dienen, um sie in das Innere von Tumorzellen zu schleusen. Auch daran arbeiten Freiburger Wissenschaftler. Im Körper spielt das Vitamin eine unentbehrliche Rolle bei der DNA-Synthese und Methylierungsreaktionen von DNA und Aminosäuren. Bei Folatmangel baut der Stoffwechsel Uracil statt Thymin in die DNA ein. Mit der Nahrung aufgenommenes natürliches Folat liegt in einer Mischung von Mono- und Polyglutamat-Formen vor, während das synthetische Produkt nur einen einzigen Glutaminsäurerest besitzt. Probanden, die mit der Nahrung viel Folat aufnehmen, haben in Untersuchungen sogar ein verringertes Risiko für Darm- wie für Prostatakrebs. Möglicherweise sind es daher unmetabolisierte Monoglutamate, die im Blut kreisen und Schaden anrichten könnten, wie Joel Mason und John Mathers von der Universität Newcastle spekulieren.
Bei aller Besorgnis über die Krebsrisiken dürfen die Vorteile einer Extraportion Folat bei Schwangeren nicht vergessen werden. Eine große Studie konnte erst vor kurzem bestätigen, dass die Zahl kongenitaler Herzdefekte in Kanada seit der Anreicherung deutlich abnahm – um rund sechs Prozent jedes Jahr. Vorher erreichten selbst intensive Kampagnen gegen Folatmangel nur etwa ein Drittel aller Frauen mit Kinderwunsch. Wie DocCheck im Gespräch mit Anke Weißenborn vom Bundesinstitut für Risikobewertung erfuhr, ist der kausale Zusammenhang zwischen Krebsrate und Folsäureanreicherung auch noch nicht endgültig geklärt. Jedoch sei eine obligate Anreicherung von Lebensmitteln ohne eine Mengenkontrolle an synthetischem Folat, das schließlich auf dem Tisch des Verbrauchers landet, zur Zeit unsicher.
Folsäure scheint einen ähnlichen Weg wie das Betacaroten zu gehen. Denn dort fanden zwei Studien heraus, dass eine hochdosierte Therapie mit dem Provitamin A nicht etwa zu weniger Krebsfällen, sondern im Gegenteil zu einem Anstieg der Rate führte. Auf den Seiten des Arbeitskreises Folsäure finden sich Informationen über den Folsäuregehalt vieler Lebensmittel. Wer der Gefahr entgehen möchte, die bei mehr als einem Milligramm zusätzlicher Folsäure im Körper droht, der sollte statt Multivitaminpillen mehr Spinat, Fenchel oder Erbsen in seinen Speiseplan einbauen.