Seltene Ausnahme für ein hoffnungsvolles Projekt: Forscher durften ihr neues, bisher nur im Labor getestetes künstliches Pankreassystem ohne vorherige Tierversuche am Menschen testen - und überzeugten. Typ 1 Diabetiker dürfen auf einen neue Therapieform hoffen.
Hopp oder Topp. Selten hat eine neue Therapie für so viel Furore gesorgt, wie das Vorhaben der University of Virginia Health System, ausgerechnet die Bauchspeicheldrüsenfunktionen des Menschen durch komplexe mathematische Algorithmen zu ersetzen. An der Umsetzung des künstlichen Pankreas wurde schon länger gearbeitet, doch immer haperte es noch an der Umrechnung der Blutzuckerwerte hin zur optimalen Dosis für die konstante Versorgung. Umso verblüffter reagierten Diabetologen am 7. Juni dieses Jahres in New Orleans, als ihnen ausgerechnet ein Mathematiker den Trend der Zukunft aufzeigte. Es gäbe „sehr ermutigende Ergebnisse“, berichtete Boris Kovatchev dem versammelten Auditorium auf dem 69. Scientific Session Kongress der American Diabetes Association in New Orleans – der künstliche Pankreas hatte eine ganze Nacht lang funktioniert.
Tatsächlich war es dem interdisziplinär besetzten Team um Kovatchev gelungen, die Insulinzufuhr bei insgesamt 20 Typ-1 Diabetiker in den USA, Italien und Frankreich mit der künstlichen Bauchspeicheldrüse zu steuern. Am 20. Januar dieses Jahres dokumentierte ein Filmteam erstmals das Prozedere im Kliniktest, seitdem zählt Patient 2080716 zum festen Bestandteil der Diabetes-Medizingeschichte. Denn Kris Bagwell ließ sich unter Aufsicht der Mediziner an das neuartige System anschließen – und überlebte den Einsatz unbeschadet. Die Idee vom künstlichen Pankreas ist denkbar einfach: Eine marktübliche Insulinpumpe beliefert den Organismus des Patienten in Echtzeit mit dem Lebenselixier, kontinuierlich gemessene Blutzuckerwerte dienen als Basis für die Berechnung der nötigen Insulinmenge. Doch was sich derart einfach liest, versetze im Dezember 2005 Experten der US Gesundheitsbehörde NIH in eine Schockstarre, wie sich der damals anwesende Kovatchev erinnert: „Eine externe Bauchspeicheldrüse hielt man für nicht möglich“.
Fortan war der Pioniergeist des Mathematikers zum Leben erweckt. Diabetologen und Medizintechniker boten die nötigten Rahmendaten. Weil die einzelnen Komponenten des Systems für sich betrachtet ohnehin seit Jahrzehnten funktionieren – sowohl Insulinpumpen als auch Blutzuckermessungen gelten als Routineelemente – konnte das Problem nur in der Verbindung beider Teile liegen. Was das menschliche Organ in Echtzeit schafft, musste nun Kovatchevs mathematische Zauberformel hinbekommen – die Nachahmung eines genialen Regelkreises der Natur war das hehre Ziel.
„Das System funktioniert noch nicht perfekt, aber besser als das, was ich selber einstellen kann“, erklärte Bagwell nach einer durchschlafenen Nacht am Tropf des Kunstorgans. Immerhin schaffte es die mathematische Drüse, den Glukose-Level zwischen 70 und 180 mg/dl einzustellen. Der Vorstoß der Amerikaner ist kein Einzelfall. Auch am Grazer Institut für medizinische Systemtechnik und Gesundheitsmanagement des Joanneum Research-Centers testen Mediziner derzeit eine lediglich CD-große künstliche Bauchspeicheldrüse nach dem Mess-und-Pump Verfahren. "Die neue Insulin-Pumpe misst kontinuierlich statt punktuell den Blutzuckerspiegel, eine exakt dosierte Menge Insulin wird abgegeben, und das Computersystem lernt den entsprechenden Bedarf für die nächsten Stunden zu berechnen", erklärte der Österreichische Internist Thomas Pieber vom LKH-Uniklinikum Graz unlängst wissensdurstigen Kids das EU-getragene Verfahren.
Für Hersteller herkömmlicher Diabetes-Therapien sind die Kunstorgane freilich auf Dauer ein Dorn im Auge. Schon im Jahr 2002 wiesen Forscher auf dem 62. Jahrestreffen der American Diabetes Association in San Francisco darauf hin, dass gesteuerte Pumpsysteme der altbewährten Spritze über kurz oder lang den Garaus machen dürften. Die in den USA und Europa jetzt erkennbaren Anstrengungen auf dem Weg zum ultimativen Kunstorgan dienen gleichwohl nicht nur dem Patientenwohl: Allein in den USA macht der Markt für Glukose-Überwachungssysteme mehr als 3,5 Mrd. Dollar pro Jahr aus.