Forscher verstehen immer besser, wie Multiple Sklerose den Nerven schadet. Eine Münchener Arbeitsgruppe konnte aufdecken, wie T- und B-Lymphozyten sich beim Angriff auf die Isolationsschicht der Nervenfortsätze gegenseitig anstacheln.
Multiple Sklerose (MS) ist die häufigste entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Fehlgeleitete Zellen des Immunsystems zerstören bei dieser Krankheit die Myelinscheide, die als Isolationsschicht die Fortsätze der Nervenzellen umhüllt. Zwar gibt es mittlerweile Medikamente, die bei vielen MS-Patienten das Fortschreiten der Erkrankung verzögern können. Dieser Erfolg ist jedoch meistens mit oft erheblichen Nebenwirkungen verknüpft, da die Arzneimittel relativ ungezielt in das Immunsystem der Patienten eingreifen. Bislang ist die Entwicklung besserer Therapien, die genauer zwischen krankmachenden und ungefährlichen Immunzellen unterscheiden, unter anderem daran gescheitert, dass immer noch wenig darüber bekannt ist, was die Attacke der Immunzellen auf das zentrale Nervensystem eigentlich auslöst und in welcher Reihenfolge die Immunzellen angreifen.
Forschern des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie in Martinsried ist es jetzt gelungen, wichtige Puzzleteile des verhängnisvollen Geschehens aufzudecken. Wie die Wissenschaftler um Prof. Hartmut Wekerle und Gurumoorthy Krishnamoorthy im Journal of Experimental Medicine veröffentlichten, könnten Antikörper erzeugende B-Lymphozyten eine entscheidende Rolle beim Fortschreiten der Erkrankung spielen. Diese Entdeckung machten Wekerle und seine Mitarbeiter mit einer neu gezüchteten Maus. Bei diesen Tieren bricht spontan eine Krankheit aus, deren Symptome der schubförmig verlaufenden MS-Variante beim Menschen verblüffend ähneln. „Sobald die Mäuse drei bis vier Monate alt sind, fangen sie an plötzlich an, nach rechts oder links zu taumeln“, erzählt Wekerle. „Nach einer Woche bilden sich die Symptome zurück. Doch die Erholung ist nicht von langer Dauer: Rund zehn Tage später trifft die Tiere ein neuer Krankheitsschub.“ Ursache für den Ausbruch ist eine genetische Veränderung, die in gesunden Tieren normalerweise nicht vorkommt: Die MS-Mäuse besitzen ein Gen für einen T-Zell-Rezeptor, der das Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein (MOG), einen Bestandteil der Myelinscheide, erkennt.
Antikörper verstärken Immunreaktion
Bisher gingen Forscher davon aus, dass Multiple Sklerose vor allem durch T-Lymphozyten ausgelöst wird, deren Rezeptoren Bestandteile der Myelinscheide erkennen. Die autoreaktiven Immunzellen locken anschließend Makrophagen an, die die Umhüllung der Nervenfortsätze Stück für Stück abbauen. Auch bei den neu gezüchteten Mäusen griffen die gegen MOG gerichteten T-Lymphozyten das Hirngewebe an und setzten die zerstörerische Kaskade in Gang. Zur Überraschung der Wissenschaftler allerdings war jedoch noch eine weitere Klasse von Immunzellen nötig, damit die Krankheit auch wirklich ausbrach: „Die T-Lymphozyten rekrutieren zusätzlich B-Lymphozyten und veranlassen sie, sich rasch zu vermehren und spezifische Antikörper zu produzieren, die an MOG andocken können“, sagt Wekerle. „Erst das Zusammenspiel von T- und B-Zellen und die darauf folgende Antikörper-Attacke auf MOG löste die Krankheit aus.“ Unterbanden die Wissenschaftler dagegen die Interaktion zwischen T- und B-Lymphozyten, blieben die Mäuse gesund.
Noch weiß Wekerle nicht genau, an welcher Stelle im Organismus die B-Lymphozyten aktiviert werden. „Vielleicht gelangt immunaktives MOG in einzelne Lymphknoten und wird dort B-Zellen präsentiert“, vermutet der Forscher, der momentan mit seinen Mitarbeitern untersucht, wie die Rekrutierung der autoreaktiven B-Lymphozyten im Detail abläuft. Nach Ansicht von Prof. Ralf Gold, Direktor der Klinik für Neurologie der Universität Bochum, zeigen die Experimente von Wekerles Arbeitsgruppe zum ersten Mal, dass B-Lymphozyten bei Multipler Sklerose durch die T-Lymphozyten in Gang gebracht werden und nicht unabhängig von diesen in Aktion treten.
Auch wenn den B-Lymphozyten wahrscheinlich eine wesentliche größere Rolle beim Fortschreiten der Multiplen Sklerose zukommt als bisher gedacht, stehen ihre Mitspieler, die T-Lymphozyten, weiterhin im Mittelpunkt des Interesses der meisten Wissenschaftler. Die T-Zellen gehen normalerweise gegen körperfremde Proteine vor und sind ein wichtiger Bestandteil des Immunsystems beim Kampf gegen Bakterien und Viren. Irrläufer, die sich gegen körpereigene Proteine richten, werden meist in den Zelltod getrieben oder durch andere Immunzellen in ihrer Wirkung unterdrückt. Einigen wenigen dieser autoreaktiven T-Lymphozyten gelingt es aber, das Kontrollsystem zu unterlaufen und Autoimmunerkrankungen wie Multiple Sklerose auszulösen. Solche T-Zellen können nicht nur MOG sondern im Prinzip jeden Bestandteil des Nervensystems als Fremdkörper fehldeuten und einen Angriff dagegen einleiten.
T-Zelle greift an zwei verschiedenen Stellen an
In einem weiteren Experiment konnte die Münchener Arbeitsgruppe zusammen mit zwei Forscherteams aus Frankreich und Israel einen besonders aggressiven Vertreter dieser Zellklasse identifizieren. Wie die Forscher in der Zeitschrift Nature Medicine bekannt gaben, erkennen diese T-Lymphozyten nicht nur MOG sondern zusätzlich noch das Protein Neurofilament-M (NF-M). Ihm kamen die Forscher auf die Schliche, als sie transgene Mäuse züchteten, die zwar einen MOG-spezifischen T-Zell-Rezeptor besaßen, denen aber MOG fehlte. Zur Überraschung der Neuroimmunologen zeigten auch diese Tiere Lähmungserscheinungen. „Dieser Befund kam völlig unerwartet, denn ohne MOG fehlt den T-Zellen eigentlich ihr Ziel zum Angreifen“, beschreibt Wekerle das paradoxe Ergebnis.
Nachdem die Wissenschaftler ausgeschlossen hatten, dass die neu gezüchteten Mäuse vielleicht doch noch in kleinen Mengen MOG produzierten, lag der Verdacht nahe, dass der T-Zell-Rezeptor noch mit einem anderen Protein reagieren kann. Die Suche nach diesem kreuzreaktiven Molekül gestaltete sich sehr aufwändig, so Wekerle: „Aus dem Nervengewebe der Mäuse isolierten wir die einzelnen Proteine heraus und boten sie den MOG-spezifischen T-Zellen an, um zu schauen, durch welche Proteine diese aktiviert wurden.“
Neues Protein ist Bestandteil der Nervenfortsätze
Interessanterweise ist das von den Forschern so gefundene NF-M ein Bestandteil der Nervenfortsätze und steckt nicht wie MOG direkt in der die Nervenfortsätze umhüllenden Myelinscheide. „ Die Tatsache, dass diese T-Lymphozyten zwei Proteine in verschiedenen Bereichen des gleichen Gewebes erkennen, könnte sie besonders aggressiv machen“, sagt Wekerle. „Die Beobachtungen sind ein großer Schritt vorwärts“, findet der MS-Experte Gold, „denn eine solche Kreuzreaktion könnte erklären, warum bei vielen MS-Patienten die Entzündung der Myelinscheide schon nach kurzer Zeit auf die Nervenfortsätze überspringt und beginnt, auch diese zu beschädigen.“ Das Ausmaß der späteren Behinderung werde entscheidend durch diesen so genannten axonalen Schaden bestimmt.
Sein Kollege Wekerle möchte nun einen Weg finden, doppelt reagierenden T-Zellen auch bei MS-Patienten zu identifizieren: „Darauf aufbauend“, so der Mediziner, „können wir dann Therapien entwickeln, die gezielt die Aktivität dieser aggressiven T-Zellen unterdrücken, oder sie aus dem Gewebe entfernen. In der Hoffnung, dass diese Therapien weniger Nebenwirkungen haben als die heutigen eher unspezifischen Behandlungsansätze.