Sterbehilfe ist in der Schweiz erlaubt und die ethische Diskussion praktisch abgeschlossen. Doch erst jetzt nahmen sich Ärzte einer entscheidenden Frage an: Warum wählen Betroffene eigentlich den Tod – und weswegen verschreiben die Doktoren die letalen Barbiturate? Die Ergebnisse stellen die Schweiz vor einem verfassungsrechtlichem Problem.
Der mysteriöse Tod des King of Pop rückte schlagartig eine Medikamentenklasse ins Rampenlicht der Weltöffentlichkeit: bekam Michael Jackson Barbiturate verabreicht und wenn ja, warum? Während die globale Fangemeinde des Künstlers auch nach dem Memorial Service in Los Angeles über dessen Ableben rätselt, könnten die ermittelnden US amerikanischen Behörden aus einer Schweizer Studie wichtige und bislang einzigartige Einblicke in die Beweggründe jener Ärzte erfahren, die dem Sterbewunsch ihrer Patienten durch Verschreibung von Barbituraten entgegenkommen.
Sterbewunsch ohne lebensgefährliche Krankheit
Tatsächlich gilt die jetzt im Fachblatt Swiss Medical Weekly (2009; 139 (23-24) 333-338) publizierte Studie als Meilenstein. Noch nie haben sich Mediziner derart minutiös mit dem ethisch so sensiblen Thema Sterbehilfe befasst, wie es die vorwiegend an der Universität Zürich arbeitenden Autoren um Susanne Fischer jetzt taten. Insgesamt 421 zwischen 2001 und 2004 durchgeführte Sterbehilfen liefern die Basis der Studie - die Ergebnisse sind mitunter verblüffend. Denn entgegen der landläufigen Meinung, wonach Sterbewillige auf Grund schwerer Krebsleiden oder anderer unheilbaren Erkrankungen auf die medizinische Hilfe zur Durchführung des Suizids zugreifen, wählten nahezu 25 Prozent der Betroffene den Freitod, obwohl sie nicht sterbenskrank waren. Als besonders wertvoll gelten dabei die Falldaten von insgesamt 165 mittlerweile Verstorbenen. Die hatten ihren Sterbewunsch schriftlich begründet, gleichzeitig legten auch die verschreibenden Ärzte eine medizinische Erklärung für die Verabreichung der Barbiturate vor. Auf diese Weise konnten Fischer und ihre Kollegen wichtige Erkenntnisse über Wunsch und Wirklichkeit gewinnen.
Zwar bestanden in Punkto Schmerzen mit rund 56 Prozent und Atembeschwerden (jeweils 23 Prozent) ähnliche Beweggründe auf beiden Seiten. Auch Sehverlust oder einsetzende Taubheit (11 Prozent aller Begründungen auf beiden Seiten) korrelieren nahezu Punktgenau. Doch es gibt eine ganze Reihe von Beweggründen, die Ärzte bisher als solche kaum für möglich hielten – oder im weitaus geringeren Maße als jene, denen sie die Rezepte ausstellten. So verzichteten 13 Prozent der Sterbewilligen nach eigenen Angaben auf ein Weiterleben, weil sie an massiven Schlaf- oder Konzentrationsstörungen litten, und diesen Zustand nicht mehr ertrugen. Doch nur vier Prozent der Ärzte teilten aus medizinischer Sicht diese Einschätzung, obwohl sie den Sterbewunsch ihrer Patienten respektierten. Ohnehin scheint der Verlust an Lebensqualität ein entscheidender Todesfaktor zu sein, wenn auch nicht aus Sicht der Ärzte. Diese stimmten nur in zwölf Prozent der Fälle mit den Angaben ihrer Patienten überein – letztere sahen es jedoch in 39 Prozent aller Anträge als unerträgliche Zukunftsperspektive an.
Die Würde des Menschen als Lebensretter
Dass psychosoziale Faktoren derart stark zum Suizidwunsch beitragen, weist womöglich auf eine neue Rolle des Arztes hin, auch wenn die Autoren der Studie die Züricher Ergebnisse nicht auf die gesamte Bevölkerung der Schweiz extrapolieren möchten. Dennoch kommt die Veröffentlichung zu einem brisanten Zeitpunkt. Denn der Schweizer Bundesrat denkt seit Juni dieses Jahres über ein Verbot der organisierten Sterbehilfe nach. Tatsächlich hatte der Bundesrat bereits im Jahr 2008 das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) beauftragt abzuklären, ob man auf die Aktivitäten von Sterbehilfe-Organisationen reagieren müsse. Im Juni 2009 bezog das EJPD Stellung: „Zur Diskussion stehen gesetzliche Schranken und ein Verbot der organisierten Suizidhilfe. Der Bundesrat ist in dieser ethisch kontroversen Frage geteilter Meinung. Er wird deshalb eine Vernehmlassung mit mehreren Varianten erarbeiten und zur Diskussion stellen." Die dafür zuständige Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf hatte bislang ein grundsätzliches Verbot der Sterbehilfe ausgeschlossen. Die Beihilfe zum Suizid ist in der Schweiz seit 67 Jahren straflos.
Die jetzige Studie, die mit Daten des renommierten Instituts für Rechtsmedizin der Universität Zürich erstellt wurde, könnte den Lauf der Dinge beeinflussen. Den Verlust der menschlichen Würde als Grund für den bevorstehenden Suizid gaben nämlich 38 Prozent der Sterbewilligen an – und zwingen dadurch postum die Politik zum Handeln. Denn Artikel 7 der Bundesverfassung bringt in einem einzigen Satz das jetzt erstmals medizinisch dokumentierte Dilemma auf den Punkt: „Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen“.