Im Mittelalter waren es Magier, die allein mit ihren Bannflüchen ihre Opfer ins Grab brachten. Aber auch noch heute haben düstere Prognosen von Ärzten und Warnungen vor Nebenwirkungen manchmal mehr Kräfte als die Krankheit selber.
Eigentlich ist der New Scientist ein renommiertes glaubwürdiges englisches Wissenschaftsmagazin. Aber die Geschichte, die er seinen Lesern vor einigen Wochen anbot, schien doch ziemlich weit herbeigeholt. Sie erzählte von Vance Vanders, der auf einem Friedhof im amerikanischen Bundesstaat Alabama von einem Zauberer verhext wurde. Als er daraufhin an einer unerklärlichen Übelkeit erkrankte und dem Tod nahe war, brachte ihn sein Arzt mit einem "Gegenzauber" innerhalb kurzer Zeit wieder auf die Beine. Er sagte ihm, er wüsste um den Bann und könnte ihn mit einem wirksamen Trank brechen.
Angeblich ist die Geschichte, die sich vor rund achtzig Jahren zugetragen hat, durch Zeugen verbürgt und der Arzt war kein Voodoo-Zauberer, sondern ein erfahrener Mediziner, der um die Kraft von Placebo und Nocebo wusste. Ein einfaches Brechmittel befreite ihn vom Spuk in seinem Körper.
Tod durch Suggestion
Wer in der aktuellen wissenschaftlichen Literatur nachschlägt, findet keine Kasuistiken von Dämonenzauber. Auch bei der ernsthaften Suche nach Menschen, die allein durch die Kraft der Suggestion ihren Tod herbeigeführt haben, muss man schon bis ins Jahr 1942 zurückgehen. Walter Bradford Cannon, ein angesehener Physiologe an der Harvard University hat im American Anthropologist Berichte solcher Vorkommnisse niedergeschrieben. In den sechziger Jahren studierten Walter Kennedy sowie die Franzosen Kissel und Barrucand den "Nocebo"-Effekt. Analog zu Placebos gaben sie ihren Studienteilnehmern statt des "versprochenen" Brechmittels Zuckerwasser - und beobachteten die erwartete Reaktion, die sonst nur beim Verum auftrat.
Anstatt eines Magiers reicht heute ein weißer Kittel, der den Patienten über Nebenwirkungen, Operationsrisiken oder im schlimmsten Fall über seine Überlebenschancen bei einer Krebserkrankung aufklärt, um damit sein Wohlbefinden zu beeinträchtigen. Clifton Meador von der amerikanischen Vanderbilt University in Tennessee erzählt in einem seiner Bücher von einem Patienten mit einem vermeintlich großen Tumor. Die Autopsie nach dem baldigen Ableben zeigte jedoch eine winzige, kaum wachsende Geschwulst. Onkologen kennen das Phänomen: Rund 60 Prozent der Patienten, die sich einer Chemotherapie unterziehen sollen, fühlen sich schon vor de ersten Behandlung elend und klagen über Übelkeit, die eigentlich erst nach der Behandlung zu erwarten wäre.
Massenhysterie – typisch weiblich?
Ebenfalls in Tennessee bemerkte 1998 eine Lehrerin einer High School in ihrem Klassenzimmer einen "benzinartigen Geruch". Übelkeit und Atembeschwerden folgten kurz darauf. Bei der Evakuierung der Schule wurden rund einhundert Schüler und Lehrer in die Notaufnahme des nahen Krankenhauses gebracht und 38 über Nacht aufgenommen. Sogar eine Woche nach der Wiedereröffnung der Schule gab es noch einmal rund 70 Anfälle. Trotz eingehender intensiver Suche wurde niemals ein konkreter Grund für diese "Massen-Hysterie" gefunden.
Am Tübinger Institut für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie forscht Paul Enck. In seinen Studien müssen Freiwillige unangenehme Prozeduren wie etwa die Rotation in einem Drehstuhl bei geschlossenen Augen über sich ergehen lassen. In einem dieser Versuche bekamen die Teilnehmer der Testgruppe unmittelbar davor eine Zuckerpille, die ihr Gedächtnis als konditionierenden Reiz zusammen mit dem Drehschwindel abspeicherte. Enck und seine Mitarbeiter fanden heraus, dass eine solche Konditionierung die unangenehme Erfahrung verstärkte, bei Frauen noch stärker als bei Männern. Auch an Massenhysterien sind Frauen entsprechend den Statistiken überproportional beteiligt.
Cholecystokinin macht aus Angst Schmerz
Die Forschung an Placebo und Nocebo findet nun auch in anderen Ländern immer mehr Beachtung. So fördert die Volkswagen-Stiftung eine Zusammenarbeit zwischen den entsprechenden Laboren in Turin, Tübingen und Essen. Die Leiter der jeweiligen Arbeitsgruppen, Fabrizio Benedetti, Paul Enck und Manfred Schedlowski beschreiben in Neuron zwei Wege, die die Angst noch vor dem Reiz im zentralen Nervensystem nimmt: Die Aktivierung von Hypothalamus, Hypohyse und Nebennierenrinde lässt sich durch Benzodiazepine blockieren. Mindestens ebenso wichtig ist aber auch die Beteiligung des Cholecystokinin-abhängigen pro-nozizeptorischen Systems. Cholecystokinin (CCK) scheint die Angst in Schmerzen umzuwandeln. Die Überempfindlichkeit bei "gebrannten Kindern" geht auf diesen Signalweg zurück. Der CCK-Rezeptorblocker Proglumid kann den Angst-Schmerz lindern. Nocebos setzen schließlich den Dopamin- und Opioidspiegel herab und bewirken damit, dass die Schmerzschwelle sinkt.
Psychopharmaka könnten eines Tages gegen die negative "Self-fulfilling Prophecy" bei sensiblen Patienten helfen. Bis es soweit ist, scheint ein Mittel aus der psychologischen Praxis erfolgreicher zu sein. Hypnose nimmt nicht nur die Schmerzen, sondern wirkt wohl selber als "Anti-Nocebo." Wer weiß, dass er unter Hypnose weniger leidet, gewinnt immer mehr Vertrauen dazu und konditioniert sich selber.
Dennoch kann auch Hypnose nicht immer die - oft unbegründete - Angst vor unheilbaren Krankheiten nehmen. Bei Menschen, die auch ohne erhöhtes physiologisches Risiko glauben, später an einem Herzinfarkt zu sterben, wird diese Suggestion selber zum Risikofaktor. Rund viermal häufiger erleiden solche Frauen den tödlichen Herzanfall. Damit stellt sich jedoch die Frage, ob die abschreckenden Texte und Bilder auf Zigarettenschachteln nicht erst recht die Lungenkrebsrate steigern? Wer um die Wirkung von Placebo und Nocebo weiß, muss wohl auch den Sinn von immer weiteren Gentests und zukünftiger kompletter Genomanalysen in Frage stellen. Denn die Kraft der Einbildung scheint den Einfluss mancher Krankheits-Risikofaktoren weit zu übertreffen.
Für den Arzt ist es immer eine Gratwanderung, seinen Patienten über Nebenwirkungen von Medikamenten oder Operationsrisiken aufzuklären, ohne ihm Angst einzujagen. Denn für allzu sensible Naturen ist der weiße Kittel immer noch Symbol für die magischen Kräfte früherer Medizinmänner, die Teufel austreiben und böse Menschen verhexen konnten.