Besonders bei Patienten auf der Intensivstation sorgen hohe Blutzuckerwerte für noch mehr Lebensgefahr. Stress-Hyperglykämie hat mehr Sterbefälle auf dem Gewissen als ein Diabetes. Und mit Insulin den Spiegel sofort herunterzufahren scheint der falsche Weg zu sein.
Der Hausarzt hatte ihm nie etwas über die Gefahr eines Diabetes gesagt. Seine Blutzuckerwerte waren bei den bisherigen Routinekontrollen immer im Normalbereich. Und jetzt auf einmal, in der Klinik kurz vor der Operation, schoss die Glukose im Blut des Patienten auf Werte über 200mg/dl. Zuviel, um gefahrlos zu operieren.
Häufig und gefährlich: Stress-Hyperglykämie
Situationen wie diese sind in deutschen Kliniken nicht selten. Wer als Diabetiker in den OP kommt, ist meist gut eingestellt. Sein Risiko für Komplikationen ist nur mäßig erhöht. Die Sorgenkinder der Ärzte sind hingegen Patienten mit einer "Stress-Hyperglykämie". Er weiß nichts von erhöhten Blutzuckerwerten in seinem Alltag und ist überrascht, wenn er auf der Intensivstation vom Laborbefund erfährt. Solche Patienten leben weitaus gefährlicher als gut gemanagte Diabetiker. Denn die plötzlichen und starken Schwankungen sorgen für mehr Begleiterkrankungen und lassen auch die Sterberate weit höher ausschlagen.
Auf Intensivstationen haben oft mehr als 90 Prozent aller Patienten mehr als 110 mg/dl Glukose im Blut. Zieht man die sicher diagnostizierten Diabetiker ab, fallen immer noch mehr die Hälfte der Patienten aus der Normalzucker-Norm. Vom eigentlichen Zuckerkranken unterscheiden sich Patienten mit Stress-Hyperglykämie durch den spontanen Rückgang ihrer Spiegel nach ihrer Rückkehr ins "normale Leben". Allerdings gilt das nicht für alle Betroffenen. Denn etwa jeder dritte Diabetiker weiß nichts von seiner Krankheit. Daher überrascht auch die Zahl einer kleinen Studie aus dem amerikanischen New Mexico nicht, die für sechs von zehn Hyperglykämie-Patienten einen Diabetes innerhalb eines Jahres voraussagt.
Kompliziertes Zusammenspiel vieler Signale
Es ist noch nicht lange her, da hielten Ärzte die hohe Zuckerproduktion in Stress-Situationen für normal. Gerade Patienten mit lebensbedrohenden Erkrankungen haben oft Probleme, ihren Zuckerspiegel zu regulieren, ohne deswegen gleich als Diabetiker geführt zu werden. Trotz mehrerer großer Studien zu diesem Thema ist noch keineswegs klar, ob Stress im Allgemeinen und bei Krankheit als Ursache für die Hyperglykämie gilt oder ob die Krankheit die Einstellung einer generellen Insulin-Steuerung beeinträchtigt.
Der typische Typ-2 Diabetiker hat es mit einer Kombination von Insulinresistenz und einem Defekt bei der Sekretion der Betazellen zu tun. Bei der Stress-Hyperglykämie ist ein ganzes Arsenal an Mitspielern aus dem Bereich der Hormone und Botenstoffe beteiligt. Eine wichtige Rolle spielen dabei Katecholamine, Cortisol, Wachstumshormon und etlicher Zytokine. Ihr Zusammenspiel führt zu einer exzessiven hepatischen Glukoseproduktion und einer - oft nur temporären - Insulinresistenz, die eine Überproduktion nicht mehr aufhalten kann. Eine ganz aktuelle Arbeit im Journal of Medical Genetics zeigt auch einen erblichen Beitrag bei Nicht-Diabetikern mit sepsis-bedingter Hyperglykämie an. Eine Mutation in der Promoter-Region des Mitochondrien-Proteins UCP2 ist eng mit den erhöhten Zuckerspiegeln verknüpft.
Wer sein Gefäßsystem schnell mit Glukose überflutet, lebt gefährlich: Wie Kathleen Dungan aus Columbus, Ohio, und zwei Kollegen in einem Review für den "Lancet" schreiben, fanden sie bei einer retrospektiven Studie mit rund 1900 Patienten eine Mortalität, die bei Probanden mit Stress-Hyperglykämie gegenüber der Vergleichsgruppe mit Normalzucker um das 18fache erhöht war. Bei Patienten mit Diabetes stieg das Risiko nur etwa um das dreifache. Auch eine Meta-Analyse bei Patienten nach einem Schlaganfall aus dem Jahr 2001 kam zu ähnlichen Ergebnissen: Gegenüber Diabetikern hatten Patienten mit "plötzlicher" Hyperglykämie etwa dreimal erhöhte Sterberaten.
Nicht nur an der Sterberate lassen sich die Risiken von Stress-Hyperglykämie ausmachen. Eine neue Studie aus Amsterdam berichtet von einer auffallend hohen Rate an Venenthrombosen bei hohem Blutzucker ohne Diabetes. Laborexperimente zeigten, dass der Zucker nicht nur mit dem Venenpfropf assoziiert, sondern auch an dessen Entstehen beteiligt ist.
Riskant: Intensivierte Insulintherapie
Fest steht somit, dass gerade bei solchen unerwarteten Spitzen eine Blutzucker-Regulation die Gefahr eindämmt. Greet van den Berghe aus dem belgischen Löven veröffentlichte bereits 2001 im New England Journal den Nutzen einer intensivierten Insulintherapie, der Morbidität und Mortalität deutlich senkte. Das gilt im Rückblick auf die damalige Studie vor allem für Langzeit-Klinikpatienten. Bei kurzen Krankenhausaufenthalten ist dagegen eine konservative Insulintherapie besser als eine allzu strikte. In einer weiteren Veröffentlichung in der renommierten Medizinzeitschrift zeigt van den Berghe, dass Zielwerte von 190-215 mg/dl weitaus mehr zu einer Senkung der Mortalität beitragen als das Streben nach "Normalwerten" von 80-110mg. Die deutsche VISEP-Studie an 18 Zentren, in denen rund 500 Sepsis-Patienten mit Insulin eingestellt wurden, brachen die Verantwortlichen wegen häufiger Hypoglykämien ab. Mit über 6000 Intensiv-Patienten bestätigte schließlich die "NICE-SUGAR"-Studie im Frühjahr dieses Jahres die Vorteile einer Insulintherapie, die sich nicht allzu streng an niedrige Werte klammert.