Die Botschaft ist klar formuliert: Ohne die Vermittlung von Patienten, die sich als Studienteilnehmer für neue Therapien zur Verfügung stellen, gerät die Forschung in eine Sackgasse. Mehr als 16 Millionen Menschen werden allein in den USA benötigt, um Studien voranzutreiben.
Chronische Schmerzen in den Beinen und damit verbunden seit Jahren anhaltende Beschwerden quälten die rüstige Amerikanerin noch vor kurzem, heute aber steht fest: Patientin Lynn Crawford geht es wieder gut, und sie wird Medizingeschichte schreiben. Denn Crawford gilt als Paradebeispiel für eine neue Strategie der NIH, wonach Ärzte ihren Patienten ins Gewissen reden und auf diese Weise diese zur Teilnahme an klinischen Studien bewegen sollen.
Tatsächlich geht der am NIH forschende Bioethiker und Onkologe Ezekiel J. Emanuel einen auf den ersten Blick harschen Weg. Wer als Patient auf die Teilnahme an klinischen Studien verzichte, verweigere der Allgemeinheit einen wichtigen Dienst. Würde beispielsweise der Anteil der Studienwilligen Krebspatienten von fünf auf zehn Prozent steigen, ließe sich die Studien Fertigstellung von durchschnittlich vier auf nur noch einem einzigen Jahr senken. „Die Pflicht, klinische Forschung aktiv zu unterstützen ist auch dann gegeben, wenn die Patienten zuvor Krankenversicherungsbeiträge bezahlten und damit verbunden ohnehin Medikamente beziehen“, folgert Emanuel.
Den fehlenden Willen der meisten Patienten sollen nun Ärzte ans Tageslicht befördern. Anders als die bisherigen Strategien, die in erster Linie auf den Nutzen von Studie für den einzelnen Teilnehmer setzten, möchte Emanuel die Doktoren zu aktiven Recruitern in Weiß verstanden wissen. Dass wirksame Medikamente auf klinische Studien der Vergangenheit beruhen sei nämlich vielen Patienten gar nicht bewusst – genau diese Wissenslücke könnten die Ärzte durch Aufklärung schließen. Weitaus deutlicher wird Emanuel, wenn es um die Bereitschaft der Probanden geht: „The Obligation to Participate in Biomedical Research“ titelte der Leiter des Department of Bioethics at The Clinical Center of the National Institutes of Health seinen Artikel im Fachblatt JAMA.
Klinische Studie als staatsbürgerliche Pflicht
Die Teilnahme an klinischen Studien als staatsbürgerliche Pflicht? Bisher galten derartige Theorien als wenig aussichtsreich, um die Akzeptanz der Bevölkerung zu steigern. Weil drei Viertel aller Studien ausschließlich von der Pharmaindustrie finanziert und die gewonnen Erkenntnisse in patentgeschützten Präparaten weniger Unternehmen münden, stoße die neue Taktik zwar noch auf Kritik, schreibt Emanuel. Sich nämlich an Studien zu beteiligen, die im Erfolgsfall zunächst Milliarden in die Kassen der Pharmaindustrie spülten, habe für viele Menschen mit dem Dienst an der Allgemeinheit wenig zu tun. Doch der NIH-Forscher wirft ein weiteres Argument in die Waagschale. „Nach Ablauf des Patentschutzes kommen die entsprechenden kostengünstigen Generika auf den Markt“, erklärt Emanuel, „und das Wissen über die Wirkung eines Präparates ist ohnehin von Anfang an Allgemeingut“.
Der unkonventionelle Vorstoß des NIH-Bioethikers könnte auch hierzulande Schule machen. Weniger als 6 Prozent aller Erwachsenen nehmen in Deutschland an klinischen Studien teil, und das, obwohl es an seriös aufgearbeiteten Fakten nicht mangelt. So informiert das KKS Netzwerk Koordinierungszentren für Klinische Studien der Berliner Charité in einer eigens dazu erstellten Patientenbroschüre über das Verfahren, nur: Die Bereitschaft mitzumachen steigert die Kampagne kaum. Selbst die akribisch aufgelistete Armada von Beratungsstellen vermag die Bundesbürger nur wenig zu mobilisieren. Nützlich, ja – aber warum mitmachen?
Dass angesichts dieser Crux gerade niedergelassene Ärzte und Doktoren in Krankenhäusern mehr erreichen könnten als die Verteilung von Broschüren und Flyern allein, glaubt Emanuel in den USA anhand einer ganz anderen Muffel-Einstellung amerikanischer Staatsbürger zu erkennen: Die Bereitschaft wählen zu gehen ging jenseits des Atlantik bekanntlich kontinuierlich zurück – bis Barack Obama den Menschen klarmachte, dass der Gang zur Wahlurne eine staatsbürgerliche Pflicht ist.
Auch wenn die Wahlbeteiligung nach wie vor zu wünschen übrig lässt, die prinzipielle Akzeptanz des neuen Pflichtbewusstseins im politischen Bereich lässt Emanuel auch in Sachen klinische Studien hoffen: „90 Prozent der Amerikaner erkennen mittlerweile den Vote als Pflicht“.