Dyslexie hat nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun. Doch oft erkennen Eltern und Lehrer die Schwierigkeiten ihrer Kinder beim Lesen zu spät. Druck raubt die Leselust, statt sie zu fördern. Neue Methoden bei der Früherkennung und ausgefeilte Therapien sollen das ändern.
Es fehlt ihnen weder an der Unterstützung durch die Eltern noch an Lesestoff oder Gelegenheit, sich in einen Text zu vertiefen. Sie möchten so gerne flüssig lesen, wenn sie es denn könnten. Trotzdem produzieren sie in Grundschul-Diktaten Fehler haufenweise oder erfinden beim Vorlesen Wörter, die in ihrem Text gar nicht vorkommen. Ohne individuelle Unterstützung und spezielle Hilfen werden sie kaum Chancen auf eine höhere Bildung und damit einen Beruf nach Wunsch haben.
Intelligent, erblich vorbelastet und demotiviert
Zwischen fünf und zehn Prozent aller Kinder, so berichten die Statistiken, leiden an Dyslexie bzw. Legasthenie, einer nach ICD-10 definierten Lese-Rechtschreibstörung, die sich bis ins Erwachsenenalter hinein fortsetzt. Sie erkennen das geschriebene Wort nicht korrekt, wissen beim Lesen nicht um dessen Bedeutung oder verrutschen in den Zeilen. Gehörtes auf Papier umzusetzen, macht ihnen enorme Schwierigkeiten. Wer dann noch den Spott von Mitschülern und zuweilen auch Lehrern ertragen muss, fühlt sich schnell ausgegrenzt und dumm. Die Lust am Lesenlernen sinkt rapide. Das bedeutet noch weniger Praxis und noch größeren Rückstand.
Aber wer an Dyslexie leidet, ist bei weitem nicht dumm. Der Intelligenzquotient liegt im Durchschnitt, nicht selten sogar im Bereich von Hochbegabten. Mehrere Studien belegen, dass etwa die Hälfte aller Dyslexie-Fälle auf das Konto der Gene im Erbgut ihres Trägers gehen. Wer Geschwister oder Eltern mit Dyslexie hat, besitzt etwa ein 50-Prozent-Risiko, selber auch Probleme mit dem Lesenlernen zu bekommen. Dabei spielt es keine so große Rolle, ob er oder sie im englisch- oder deutschsprachigen Raum aufgewachsen ist oder Chinesisch als Muttersprache hat, wie John Gabrieli vom amerikanischen Harvard-Massachusetts-Institute of Technology in einem kürzlichen Science-Review schreibt.
Blick ins Gehirn verrät Dyslexie-Anlagen schon früh
Einer der Hauptursachen für Dyslexie ist die "Phonologic Awareness", die Entschlüsselung von gehörtem Text. Nur dann kann das Kind die Sätze auch in gelerntes Schriftbild umsetzen. Wer das, was er hört, nicht in Buchstaben und Laute auftrennen kann, wird auch schriftlich Niedergelegtes nicht entsprechend analysieren. Auch ein mangelndes "verbales Kurzzeitgedächtnis" führt zur Dyslexie. Es reicht nicht, eine Silbe oder ein Wort zu erkennen, wenn die Erinnerung daran nach dem Entschlüsseln des nächsten Zeichens schon wieder verflogen ist.
Dyslexie wird meist erst deutlich, wenn das Kind die Vorschule besucht oder in der Grundschule das Alphabet lernt. Die Voraussetzungen dazu werden jedoch schon mit der Geburt gelegt. Als Kleinkind hören wir den ganzen Tag Worte auf uns einprasseln. Mit zunehmendem Alter geht uns immer mehr der Sinn dessen auf, was Mama oder Papa uns vermitteln wollen. Wie aus "Sinnbildern" in unserem Gedächtnis verstandene und gesprochene Worte werden, ist inzwischen auch mit Hirnscans erfasst. Abnormale Aktivierung von Neuronen findet sich bei Patienten mit defekter phonologischer Wahrnehmung vor allem im temporoparietalen Kortex, also dem Schläfen- und Seitenlappen des Gehirns. Vor allem im indogermanischen Sprachraum machen sich Defekte in diesem Bereich bemerkbar. Im chinesischen Sprachraum, der seine Schrift entsprechend der Bedeutung anstatt bestimmter Laute entwickelt hat, dafür eher im präfrontalen Kortex, der für das verbale Kurzzeitgedächtnis verantwortlich ist.
Statt mit der aufwändigen funktionalen Magnetresonanz (fMRT) kann man dem Gehirn aber auch noch einfacher beim Lesenlernen zuschauen. ERP's (Event-related Potentials) lassen sich mittels EEG ableiten und geben bereits 36 Stunden nach der Geburt Auskunft über funktionelle Störungen, die später zu Dyslexie führen. Die entsprechenden Signale, so zeigen Studien, korrelieren sehr gut mit sprachlichen Fähigkeiten und können genauer als Lerntests die Lese-Entwicklung im Lauf der Schulzeit voraussagen. Auch Erfolge bei der Förderung solcher Kinder dokumentieren ERP's recht präzise.
Fördern: Ohne Druck und individuell abgestimmt
So etwa, dass stures Pauken von Lesestoff die Motivation eher senkt und nur sehr mäßig weiterhilft. Erfolgreicher scheint da ein Projekt in Berlin-Pankow zu sein. Besucht das Kind eine der Grundschulen, die an ein Ambulanzzentrum für Lese- und Rechtschreibschwächen angeschlossen sind, bekommt es bei Bedarf neben dem normalen Schulunterricht Förderunterricht in Kleingruppen mit modernsten technischen Mitteln. Dazu kommen dreimal im Jahr Intensivkurse für Schüler mit Dyslexie. Besonders wichtig: Überschaubare Stoff- und Zeiteinheiten nehmen den Kindern den Stress, immer mehr Text möglichst schnell lesen zu müssen: Lieber korrekt als schnell.
Aber auch wer nicht in Berlin wohnt, hat Chancen auf effektive Hilfe: Ein computerbasiertes Programm, das Wissenschaftler an der LMU-München entwickelt haben, testet zunächst die Lesegeschwindigkeit von Silben, Worten und Zeilen. Am Bildschirm helfen im zweiten Schritt farbig unterlegte Buchstaben und Worte den Kindern, sich von Wort zu Wort und von Satz zu Satz zu hangeln und nachzusprechen - in der individuellen optimalen Trainingsgeschwindigkeit. Einen ähnlichen Fokus hat auch ein Freiburger Trainingsprogramm, das kontrolliertes Hinschauen einübt. Denn Lesen besteht aus Blicksprüngen (Sakkaden) von Wort zu Wort und von Zeile zu Zeile. Dyslexie-Patienten sind auch in dieser Disziplin schwach. Nach drei bis sechs Wochen Training sinkt die Fehlerquote bei den Kindern um rund die Hälfte.
Gene, die bei Dyslexie-Patienten verändert sind, betreffen vor allem die Beweglichkeit von Neuronen und das Wachstum von Axonen. Arndt Wilcke vom Leipziger Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie möchte wissen, ob ein einfacher Gentest schon in der frühen Kindheit eine spätere Dyslexie voraussagen kann. Ausgewählte sächsische Kleinkinder werden daher in den nächsten Jahren regelmäßig Speichelproben an das Labor abgeben und sich dann Lese- und Hörtests unterziehen.
Lange Zeit haben sich Bildungsforscher und Politiker mit Verantwortlichen des Gesundheitssystems um Zuständigkeiten bei Kindern mit Leseschwierigkeiten gestritten. Entsprechende Fördermaßnahmen sind teuer, wenn sie speziell auf das Kind ausgerichtet sein sollen. Nur dann sind auch die Erfolgsquoten vielversprechend hoch. Anlagen für Dyslexie besonders bei familiärem Risiko früh auch mit neurologischen Werkzeugen erkennen, rechtzeitig eingreifen und fördern, und den Erfolg des Trainings kontrollieren, das wäre wohl der richtige Weg, damit Probleme beim Lesenlernen nicht zu einem lebenslangen Handikap werden.