Die Impfung gegen Schweinegrippe hat zum bizarren Nachrichtenreigen geführt. Einigen auch von ärztlicher Seite sekundierten Kritikern zufolge steht Deutschland vor einem gigantischen Menschenversuch mit ungewissem Ausgang. Die Realität ist prosaischer.
Das Rumpeln und Poltern war bis in die Hauptnachrichten hinein zu hören: Bei einer harmlosen Erkrankung, der Schweinegrippe oder „neuen Grippe“, werde mit einer Milliarde Euro ein Großversuch am deutschen Bürger unternommen, konnten wir hören. Ein in Studien ungenügend getesteter Impfstoff werde massenhaft unters Volk gestreut, um – hier gab es dann zwei Versionen – entweder die erst kürzlich eingeführten Pandemiepläne zu testen oder aber die Pharmalobby zu bedienen. Zu den aufgefahrenen Schreckgespenstern gehörte das Guillain-Barré-Syndrom, eine Nervenerkrankung, die in den 70er Jahren in den USA nach einer Schweinegrippe-Impfaktion aus bis heute unklaren Gründen leicht gehäuft auftrat. Die anderen üblichen Verdächtigen in Sachen Impfkomplikationen kamen natürlich auch nicht zu kurz: Multiple Sklerose und Krebs zum Beispiel. Eine kurze Umfrage in der Nachbarschaft belegt, dass diese Botschaften angekommen sind: „Gegen Schweinegrippe impfen? Bist du irre?“
Auch bei mildem Verlauf drohen viele tausend Tote
Deutschland geht also psychologisch gut gerüstet in den möglicherweise übelsten Grippe-Herbst seit Jahrzehnten. „Dass sich eine Grippe auf der Nordhalbkugel im Juli und August ausbreitet, ist schon sehr ungewöhnlich“, sagte der Präsident des Paul Ehrlich-Instituts, Professor Johannes Löwer, der als Reaktion auf die mediale Hysterie prompt in Berlin zu einer Pressekonferenz vorstellig wurde. Er hält es deswegen für überhaupt nicht aus der Luft gegriffen, dass die im Moment scheinbar so harmlose Erkrankung in den nächsten Monaten kräftig anfängt zu wüten. Löwer erinnerte auch daran, dass zumindest bei zwei der großen Grippepandemien im 20. Jahrhundert kleine Sommerepidemien am Anfang der Katastrophe standen. Das muss nicht heißen, dass es auch diesmal knüppeldick kommt. Aber selbst die normalen saisonalen Grippen führen wegen der immensen Erkrankungszahlen Jahr für Jahr zu vielen tausend Todesfällen. Nicht umsonst wird von der Ständigen Impfkommission für Risikopatienten seit Jahren eine Impfung gegen die saisonale Grippe empfohlen. „Da wäre es schon etwas unlogisch, bei der neuen Grippe nicht zu impfen“, so Löwer in Berlin. Von einer Massenimpfung der ganzen Bevölkerung war bisher ohnehin noch nicht die Rede: Auch bei der Schweinegrippe geht es um Risikogruppen, die freilich etwas anders strukturiert sind als bei der herkömmlichen Grippe. Laut WHO-Daten sind – wie bei der saisonalen Grippe – chronisch kranke Menschen besonders gefährdet. Dazu kommen aber, und das ist neu, fettleibige Menschen und schwangere Frauen. Neu ist auch, dass über alle Risikogruppen hinweg die Gefahr größer wird, je jünger die Betreffenden sind.
Pandemieimpfstoffe: Mehr Lokalreaktionen, sonst nix
Was aber ist nun dran an der These von angeblich ungenügend getesteten Impfstoffen? Deutschland hat Verträge mit zwei Herstellern geschlossen, GSK und Novartis. Die kürzlich bestellten 50 Millionen Impfstoffdosen für 25 Millionen Menschen kommen von GSK. Der GSK-Impfstoff basiert auf dem aus Anlass der Vogelgrippe entwickelten Pandemieimpfstoff Pandemrix. „Für die aktuelle Impfaktion werden hier nur die Antigene ausgetauscht“, so Löwer. Das ist genau derselbe Prozess, der Jahr für Jahr bei den Impfstoffen gegen die saisonale Grippe durchlaufen wird – ohne erneute Großstudien. Das ursprüngliche Pandemrix freilich hat eine ganz normale Impfstoffzulassung durchlaufen. Von ungetestet kann also keine Rede sein. Anders sieht es bei dem Impfstoff von Novartis aus. Dieser wird mit neuer Technik nach dem so genannten Zellkulturverfahren hergestellt. Eine Musterzulassung wie bei Pandemrix existiere hier noch nicht, so Löwer. Für diesen Impfstoff laufen deswegen derzeit die Zulassungsstudien. Erst nach erfolgreichen Abschluss dieser Untersuchungen wird er zur Verfügung stehen, wenn alles glatt läuft irgendwann Ende des Jahres.
Der entscheidende Unterschied zwischen den Pandemieimpfstoffen und den Impfstoffen gegen die saisonale Grippe besteht in der Beigabe eines Adjuvanz, also eines „Verstärkers“ der Immunantwort. Der wurde nötig, damit im Falle einer Pandemie die enorm großen Impfstoffmengen, die weltweit benötigt werden, überhaupt hergestellt werden können. „Das Adjuvanz führt dazu, dass wir bei den Pandemieimpfstoffen mehr Lokalreaktionen haben“, so Löwer. Darüber hinaus gab es bisher aber bei den Nebenwirkungen keine Unterschiede zur nicht-adjuvantierten Impfung.
Kein Hinweis, dass Grippe-Impfung auf die Nerven geht
Das wird die Skeptiker freilich nicht überzeugen: Der Kern der Impfhysterie bestand darin, dass es ja Nebenwirkungen geben könne, die in den Zulassungsstudien nicht auffallen, weil sie zu selten sind. Nun ist der Einsatz von Adjuvanzien aber nichts Neues in der Impfstoffhistorie. Das von Novartis eingesetzte Adjuvanz beispielsweise ist in dem schon im Jahr 2000 zugelassen Impfstoff Fluad enthalten, der bisher mehr als 40 Millionen Mal verimpft wurde. Und auch die Adjuvanzien der anderen Pandemieimpfstoffe sind marktüblichen Adjuvanzien zumindest sehr ähnlich. Das in den USA in den 70er Jahren nach Schweinegrippe-Impfungen aufgetretene Guillain-Barré-Syndrom (GBS), eine Nervenerkrankung, lässt sich ohnehin nicht mit Adjuvanzien erklären. Denn die vier damals eingesetzten Impfstoffe enthielten allesamt keine Verstärker. Nicht zuletzt als Reaktion auf diese Episode wurde die Impfung gegen saisonale Grippe immer wieder auch im Hinblick auf die GBS-Inzidenz untersucht. Sieben Studien waren negativ, in zweien zeigte sich eine ganz leichte positive Korrelation. Statistisch lässt sich daraus jedenfalls kein Feindbild konstruieren.