Vernetzte Versorgung ist in – sollte man meinen. Die Wirklichkeit ist nicht so rosig, das belegt eine Studie der Uni Nürnberg. Viele Netze kooperieren vor sich hin, ohne sich intensiv zu vernetzen. Im internationalen Vergleich sind deutsche Netze schlicht unreif.
Gesundheitslobbyisten, Sachverständige und natürlich Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt: Sie alle reden seit vielen Jahren von der vernetzten Versorgung – und kommen doch nur mäßig voran. Den Eindruck kann zumindest bekommen, wer die Praxisnetz-Studie 2009 des Lehrstuhls Wirtschaftsinformatik II der Universität Erlangen-Nürnberg studiert, eine Neuauflage einer sehr ähnlichen Untersuchung aus dem Jahr 2006. Für den Recherchezeitpunkt Mai 2008 sind die Nürnberger in Deutschland auf eine Grundgesamtheit von 365 Praxisnetzen gekommen, die – schönes Zitat – „zumindest formal existieren“. Insgesamt 24 Prozent der deutschen und 21 Prozent der Schweizer Netze konnten zum Mitmachen bewegt werden. Zwar waren kleine Netze in der deutschen Stichprobe ein wenig unterrepräsentiert. Allerdings gab es keine statistisch signifikante Abweichung von der theoretischen Verteilung, sodass die Untersuchung als recht repräsentativ gelten kann.
Das Zeugnis: Reife gering, aber der Trend stimmt
Eine der Kernbotschaften der Studie besteht darin, dass die Reife der Arztnetze in Deutschland im Mittel noch deutlich verbesserungswürdig ist – gerade auch im Vergleich mit der Schweiz. Die „Netzreife“ wird nach einem in Nürnberg entwickelten Modell ermittelt. Einbezogen werden unter anderem das Vorhandensein von Netzzielen, die Kooperationsintensität und die IT-Ausstattung des Netzes. Beispiel Koordinationsarztmodell: Während in Deutschland nur 50 Prozent der Netze angeben, über einen Koordinationsarzt zu verfügen, sind es in der Schweiz 94 Prozent. Etwas besser sieht es bei den Netzzielen aus, die von der Mehrheit der deutschen Netze niedergelegt und intern abgestimmt wurden. Immerhin 22 Prozent freilich haben keine abgestimmten Netzziele und verfehlen damit eine der Mindestvoraussetzungen für eine erfolgreiche Kooperation.
Die zweite Kernbotschaft aus Nürnberg ist freilich, dass die Entwicklung aller Mängel zum Trotz in die richtige Richtung geht. So arbeiten 54 Prozent aller Netze in Deutschland mit Arbeits- und Verfahrensanweisungen. Das sind mehr als doppelt so viele wie noch vor drei Jahren. Ebenfalls mehr als verdoppelt hat sich der Anteil jener Netze, die sich einen Vollzeitmanager leisten: Es sind 55 Prozent, nach 22 Prozent im Jahr 2006. Das Fazit des Zwischenzeugnisses lautet also: Das Kind ist bemüht und sehr aufgeschlossen. Doch für die Versetzung auf eine weiterführende Schule reicht es (noch) nicht.
Cash und Elektronik bleiben die Problemzonen
Ziemlich zurückhaltend sind die deutschen Netze beim Thema Vergütung – gerade im Vergleich zur Managed Care-erprobten Schweiz: Nur 14 Prozent der Schweizer Netze haben keine netzspezifische Vergütung. In Deutschland sind es 65 Prozent. Noch größer ist die Diskrepanz bei der Königsdisziplin, den Capitation-Modellen: Während 71 Prozent der befragten Schweizer Netze Verträge mit Kopfpauschalen abgeschlossen haben, sind es in Deutschland nur 8 Prozent. Auch hier stimmt allerdings der Trend: 2006 waren noch 75 Prozent der deutschen Netze ganz ohne netzspezifische Vergütung.
Den größten Nachholbedarf findet die Studie der Wissenschaftler um Jörg Purucker wenig überraschend bei den Informations- und Kommunikationssystemen. Einen netzweiten Zugriff auf Patientendaten geben nur 11 Prozent der Netze an. Nur bei jedem zehnten Netz wird die Umsetzung von Arbeits- und Verfahrensanweisungen per IT unterstützt. Und nur 54 Prozent der Netzmanager sind der Auffassung, dass die beteiligten Personen über ausreichende Qualifikationen im Umgang mit IuK-Systemen verfügen. Dass in einem solchen Umfeld gutes Controlling schwerfällt, ist klar. Entsprechend niedrig ist mit 29 Prozent die Quote der Netze mit routinemäßigem Controlling des Netzgeschehens. Positiv gesehen: 2006 waren es nur 9 Prozent.
Im Kampf gegen Politik und Lethargie
Was nun behindert Praxisnetze in Deutschland? Womit haben deutsche Netze am meisten zu kämpfen? Auch danach haben die Wissenschaftler gefragt, und die Antworten deuten in zwei Richtungen. Da sind zum einen die aktuellen politischen Rahmenbedingungen: Praxisnetzen wird es derzeit politisch nicht unbedingt einfach gemacht. Die diversen Hausarztverträge haben die Position der Ärzte in der Primärversorgung gestärkt. Viele Fachärzte dagegen stehen eher schlechter da als vorher. Zwar schließen sich die Teilnahme an einem Hausarztvertrag und an einem Praxisnetz nicht per se aus. Es kann aber schon zu Interessenskonflikten kommen, wie das Zitat eines in ein Praxisnetz eingebundenen Facharztes belegt: „Hausarztzentrierung und Hausarztmodelle dürfen nicht zu aktiver Blockierung des Zugangs zum Facharzt werden.“
Der zweite Hemmschuh findet sich innerhalb der Netze: Es ist die Zurückhaltung vieler beteiligter Ärzte. Sie sind zwar den ersten Schritt der Vernetzung gegangen, lassen es dann aber an Engagement fehlen, was vor allem im Netzmanagement zu erheblichem Frust führen kann. Geschützt durch die Anonymität der Befragung lässt so mancher Netzmanager seinem Unmut freien Lauf: „Die Lethargie der Netzmitglieder verhindert eine weitere Professionalisierung“, ist da zu hören, oder auch: „Die Mehrzahl der Teilnehmer ist träge, abwartend, zögerlich, überkritisch, lähmend, egoistisch.“
Nörgler loswerden macht glücklich
Angesichts solcher Aussagen freut es zu hören, dass 71 Prozent der Netzärzte insgesamt zufrieden mit ihrem Netzdasein sind. Und bezüglich der Kooperation zwischen Hausarzt und Facharzt werden sogar noch höhere Werte erreicht – trotz Hausarztverband. Dass mehr geht, zeigen die Schweizer, wo die Quoten etwas höher liegen als in Deutschland. Als mögliche Ursachen für höhere Zufriedenheit sehen die Autoren der Studie die Einführung von Managementstrukturen und den Rauswurf – politisch korrekt: die Abspaltung – wenig engagierter Netzmitglieder. In Sachen Druck auf die Mitglieder wird man übrigens zunehmend forscher: Immerhin 15 Prozent der Netze geben an, dass Zielverfehlungen sanktioniert werden. Das sind dreimal so viele wie noch 2006.