Es soll weltweit die erste Adresse für Gleichgewichtsstörungen werden. Mit rund 25 Millionen Euro entsteht in München demnächst ein Forschungs- und Behandlungszentrum, das die Detektivarbeit bei Schwindelanfällen leichter machen soll.
Ein schneller Wienerwalzer, einmal Achterbahn oder Kettenkarussell - und schon dreht sich alles um einen herum. Wer nur bei diesen Vergnügungen die Augen verdreht, ist kein Fall für die Experten der Spezialambulanz. Bei manchen Patienten kommt jedoch der Schwindelanfall täglich - über Jahre hinweg. Der Hausarzt überweist Patienten mit Gangunsicherheit nicht selten an den Orthopäden, der sich mit der Diagnose ebenso schwer tut.
Weltweit führendes Zentrum
Viele derjenigen, die in München in die Schwindelambulanz kommen, haben bereits Ärzte mehrerer Fachdisziplinen gesehen, bevor sie meist der Neurologe dorthin überweist. Nur wenige Kliniken in Deutschland bieten ein Ärzteteam aus verschiedenen Fachrichtungen an, um unsicheren Patienten zu helfen. Im Münchner Klinikum Großhadern hat sich seit rund zehn Jahren ein Zentrum mit internationalem Ruf etabliert. Anerkennung dafür gab es jetzt auch von höchster Stelle. Ab November wird aus der Abteilung der neurologischen Klinik ein integriertes Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) für Schwindel, Gleichgewichts- und Okulomotorikstörungen. Mit 25 Millionen Euro für die nächsten fünf Jahre und einer Option auf weitere Förderung durch das Bundesforschungsministerium wird aus der Einheit unter der Leitung von Thomas Brandt ein Zentrum für schwierige Schwindelfälle und multizentrische Studien, einmalig in seiner Art nicht nur in Deutschland, so der renommierte "Schwindel-Experte".
Leitsymptom mit ganz unterschiedlichen Ursachen
Jeder Dritte leidet in seinem Leben irgendwann einmal an Schwindel, jeder fünfte mindestens einmal im Jahr. Rund 100 verschiedene Formen machen Ärzten das Leben schwer, die nicht gleichzeitig gute Kenntnisse in Neurologie, HNO, Augenheilkunde, Psychiatrie und Psychosomatik haben. Wenn der Körper plötzlich aus dem Gleichgewicht gerät, ist das die Folge ganz unterschiedliche Störungen. Neunzig Prozent der Betroffenen leiden dabei an einer der zehn häufigsten Schwindelformen. Am häufigsten ist dabei der "benigne periphere paroxysmale Lagerungsschwindel" mit kurzen Drehschwindelattacken. Dabei wandern Steinchen in die Bogengänge und reizen dort die entsprechenden Rezeptoren. Meist reichen einige schnelle Lagerungsmanöver, um die verirrten Objekte herauszubugsieren und den Patienten damit von seinen Beschwerden zu befreien.
Ganz andere Ursachen hat etwa der phobische Schwankschwindel, häufigstes Schwindelsymptom unter jungen Erwachsenen. Immer wieder in ähnlichen Situationen begegnet dem Patienten eine Unsicherheit beim Gehen und Stehen, nicht selten kombiniert mit Übelkeit. Der Neurologe sieht nichts Auffälliges. Mit den richtigen Fragen findet der Arzt jedoch heraus, dass sein Patient im Beruf oder im Privatleben gestresst ist und bestimmte Situationen und Umstände vermeidet, weil ihm dann schwindlig wird. Häufig ist dabei auch eine Depression mit im Spiel. Die Behandlung der dahinter liegenden psychischen Störung hilft auch gegen die Schwindelattacken, die den Patienten verunsichern.
Häufig ohne Kopfschmerzen, aber mit Schwindel macht sich eine Form von Migräne bemerkbar. Die vestibuläre Migräne ist die häufigste Form spontaner Schwindelattacken - die Minuten oder aber auch Stunden dauern können. Wie bei anderen Migränetypen begleitet den Anfall manchmal eine Aura. Ohne die typischen anderen Migränesymptome kann der Arzt den Schwindel erst durch das Ansprechen auf entsprechende Medikamente sicher zuordnen.
Begehrte „besonders schwierige Fälle“
"Bei 40 bis 80% bleibt die Ursache des Schwindels ungeklärt. In speziellen Schwindelambulanzen gelingt es hingegen, bei 90% der Betroffenen die Ursache festzustellen und eine gezielte, wirkungsvolle Therapie einzuleiten", beschreibt Michael von Brevern, Neurologe an der Berliner Park-Klinik Weißensee, die derzeitige Unterversorgung von Schwindelpatienten. Die Trennung in Fachgebiete gibt es in den Spezialambulanzen wie etwa der in München-Großhadern nicht mehr. Allerdings müssen dort die rund 2000 Patienten im Jahr rund drei Monate auf ihren Termin warten. Bis zum nächsten Jahr soll sich das ändern: Keine Wartezeit für die rund 5000 Schwindel-Geplagten. Mit 60 neuen Stellen wollen die Münchner zum weltweiten Referenzzentrum für das Leitsymptom Schwindel werden. "Wir wollen besonders die schwierigen Fälle" betont Thomas Brandt und baut dabei fest auf die Zusammenarbeit von Forschung und Klinik im Haus, aber auch mit anderen Foschungsinstitutionen wie etwa der "German Mouse Clinic" am Helmholtz Zentrum, die sich auf die Simulation von Krankheiten im Tiermodell spezialisiert hat.
Zur erweiterten Mannschaft der gehören dann auch Ingenieure. Um den Blick der Patienten besser zu erforschen, haben die Forscher an der Ambulanz zusammen mit Technikern an der TU-München in den letzten Jahren etwa eine Videobrille entwickelt, die mit integrierten Infrarotkameras Augenbewegungen aufzeichnen kann. Das wiederum erlaubt Rückschlüsse auf die Ursache der Schwindelanfälle.
Für die meisten Patienten ist eine Hi-Tec-Ausstattung nicht notwendig. Wenn der niedergelassene Arzt seinem Patienten statt der CT- oder Kernspin-Untersuchung eine Einweisung zu den Spezialisten anordnet, lassen sich Kosten sparen. Eine Untersuchung der KKH-Krankenkasse ergab, dass 15000 Schwindelpatienten im Laufe von zwei Jahren für rund 1,5 Mi Euro unwirksame und damit unnötige Medikamente bekamen. Die Millionen, die nun in das neue Zentrum zur Erforschung, Behandlung und nicht zuletzt in die ärztliche Weiterbildung fließen, scheinen damit gut angelegt - ohne Schwindel.