Elektronischen Patientenakten wird gerne nachgesagt, dass sie einen unbändigen Datenhunger entfachen würden. Jetzt haben Kinderärzte Appetit bekommen und versucht, anhand von E-Akten Risikopatienten für häuslichen Missbrauch zu identifizieren. Es funktioniert.
Im Allgemeinen gelten eine effiziente Archivierung und die rasche Wiederauffindbarkeit von relevanten Dokumenten als die beiden Kernargumente für die elektronische Dokumentation im Gesundheitswesen. Patientenindividuelle Datensammlungen können freilich noch viel mehr: Insbesondere dann, wenn sie einigermaßen vollständig sind, können sie als Grundlage für automatische Auswertungen herhalten. Solche Lösungen erleichtern es dem Arzt, Patienten zu identifizieren, die für bestimmte Therapiemaßnahmen in Frage kommen.
Ob Missbrauch droht oder nicht, sagt dir gleich das Licht
Teilweise ist das längst Realität. So stellen diverse Praxis-EDV-Hersteller Software-Module zur Verfügung, die es dem Arzt erlauben, Patienten zu identifizieren, die beispielsweise für ein Disease Management-Programm oder für einen extrabudgetären Vertrag in Frage kommen. Auch diagnostisch ausgerichtete IT-Lösungen gibt es, die im simpelsten Fall bei auffälligen Laborkonstellationen warnen. Was Experten um Dr. Ben Reis vom Children’s Hospital Informatics Program der Harvard Medical School jetzt in der Zeitschrift BMJ (2009; 339:b3677) in die Diskussion werfen, geht allerdings einen deutlichen Schritt weiter. In einer Studie haben sie untersucht, ob sich über die Jahre hinweg aus den elektronischen Daten von Patienten mit Hilfe eines Algorithmus vorhersagen lässt, wer möglicherweise Opfer von häuslichem Missbrauch ist oder wer Gefahr läuft, zum Missbrauchsopfer zu werden. „Ärzte haben typischerweise nicht die Zeit, Patientenakten intensiv zu studieren, wenn sie einen Patienten nur kurz zu Gesicht bekommen. Das führt dazu, dass beispielsweise häusliche Gewalt oft jahrelang nicht erkannt wird. Die richtige Diagnose versteckt sich dann oft hinter akuten Beschwerden, die den scheinbaren Grund für einen Arztbesuch bilden“, betont Reis. Ein automatischer Algorithmus, so die These, könnte Abhilfe schaffen, indem er den Arzt bei bestimmten Risikokonstellationen vor möglichem Missbrauch warnt.
Viele Besuche in der Notaufnahme als Prädikator für Missbrauch
Um einen solchen Algorithmus zu entwickeln, haben sich die Wissenschaftler Datensätze von über einer halben Million Patienten angesehen, von denen über vier oder mehr Jahre eine lückenlose medizinische Dokumentation vorlag. Um Missbrauchsfälle zu identifizieren, wurden zunächst ICD 9-Codes verwendet, und zwar zum einen jene Codes, die einen direkten Bezug zu häuslicher Gewalt haben, zum anderen eine Reihe verwandter Codes, die auf häusliche Gewalt hindeuten können, aber nicht müssen. In diese Kategorie fielen vor allem Codes für absichtlich herbeigeführte Verletzungen, für Menschenbisse und für versuchte Vergiftungen sowie Codes die im Zusammenhang mit einer Vernachlässigung von Kindern oder Angehörigen stehen. Aufbauend auf diesen Daten wurde dann eine Software entwickelt, die mögliche Missbrauchsfälle unabhängig von der ICD-Codierung anhand von Faktoren wie der Zahl der Aufenthalte in Klinik beziehungsweise Notaufnahme und auch anhand der Art der Diagnosen vorher zu sagen versuchte. Die Validierung erfolgte mit Hilfe der gesamten Datenbank, um zu sehen, wie zuverlässig und wie früh Risikokandidaten für einen häuslichen Missbrauch erkannt werden können. Neben der schieren Zahl der Arztbesuche korrelierten unter anderem Verletzungen und verschiedene psychische Erkrankungen mit dem Risiko häuslicher Gewalt. Alkoholismus und Vergiftungen waren vor allem bei Frauen prädiktiv, während affektive Störungen bei Männern in Sachen Missbrauch wegweisender waren.
Software warnt zum Teil Jahre vorher
Die eigentlich interessante Frage war jetzt natürlich, wie gut der Algorithmus tatsächlich funktionierte. Und hier muss man sagen, dass die US-Experten recht gute Arbeit geleistet haben. So konnte bei der Vorhersage von späteren Missbrauchsdiagnosen eine Sensitivität von knapp 90 Prozent erzielt werden, wenn zwanzig Prozent Fehlalarme akzeptiert wurden. Bei einer Toleranzgrenze von 15 Prozent Fehlalarmen betrug die Sensitivität noch rund 80 Prozent. Im Mittel gelang die Risikozuordnung dabei 10 bis 30 Monate vor der tatsächlichen Missbrauchsdiagnose. Das ist für einen ersten Anlauf schon ganz ordentlich. Entsprechend zuversichtlich ist Wissenschaftler Reis: „Je mehr Daten zur Verfügung stehen, umso größer wird das Potenzial, mit dieser Methode die Vision einer prädiktiven Medizin zu verwirklichen, bei der große Mengen an Informationen genutzt werden, um individuelle Krankheitsrisiken zu identifizieren.“
Das stimmt einerseits. Andererseits stellen sich bei der gewissermaßen industrialisierten Vorhersage von häuslichem Missbrauch natürlich ethische Fragen, die sich bei der Identifizierung von DMP-Kandidaten oder auch von Patienten mit erhöhtem kardiovaskulärem Risiko so nicht stellen. Die „Verdachtsdiagnose“ Missbrauch stigmatisiert nicht nur den Patienten, sondern auch dessen Familie. Wenn sie im Einzelfall falsch ist und diese Falschinformation – zum Beispiel aufgrund schlecht gesicherter IT-Systeme – in die Hände Dritter gelangt, kann das erheblichen menschlichen Schaden anrichten. Zwar gibt es solche Konstellationen auch heute schon. Nobelpreisträger Harald zur Hausen beispielsweise warnte kürzlich seine Kollegen davor, bei jungen Mädchen mit Genitalwarzen reflexartig an Missbrauch zu denken. Hier handelt es sich allerdings um Einzelfälle. Eine Software dagegen könnte pauschale Verdächtigungen zum Massenphänomen machen.