Erbricht sich die Tochter nach dem Essen oder hungert sich auf Knochenstärke herab, geraten Eltern nicht selten unter Verdacht, schuld zu sein. Freispruch gewähren neue Forschungsprojekte und ein Positionspapier der Academy for Eating Disorders.
Wenn die Seele schwer im Magen liegt, dann kann es unappetitlich werden: Bis zu drei Prozent aller Frauen und etwa 0,5 Prozent aller Männer erkranken nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) an einer Bulimie und provozieren nach der Aufnahme größerer Nahrungsmengen das Erbrechen, oft heimlich. Wesentlich offensichtlicher ist die Anorexie, an der 0,5 Prozent aller Frauen und 0,05 Prozent der Männer erkranken. Die Betroffenen hungern sich auf einen BMI von weniger als 17,5 kg/m2 herunter und leiden an der Angst, dick zu werden.
Erklärungsversuche gibt es viele
In den westlichen Industriestaaten ist zumindest die Magersucht seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bekannt. Schon lange bemüht sich die Wissenschaft, Erklärungen für diese absonderliche Sucht zu finden. So gibt es Hinweise auf Stoffwechsel- und Hormonstörungen. Ein psychodynamischer Erklärungsansatz beschreibt die Angst der Betroffenen vor der sexuellen Reife und dem Erwachsenwerden. Demnach wollen die Hungernden ihre Entwicklung blockieren und ein kindliches, asexuelles Leben führen. Lerntheoretiker verweisen auf eine angebliche Gewichtsphobie der Magersüchtigen und auch sozio-kulturelle Erklärungsmuster werden zur Erklärung herangezogen. Sie sehen die Frau als Opfer eines übertriebenen gesellschaftlichen Schlankheitswahns.
Auch die Familie von Essgestörten zieht das Interesse der Ärzte auf sich. Schließlich liegt bei der Ursachenforschung buchstäblich nichts so nahe wie Mama, Papa, Bruder oder Schwester. Vor allem in den 60er und 70er Jahren wurde von einigen Forschern die „psychosomatische Familie“ als Ursache für Essstörungen angenommen. Versuche, für die einzelnen Essstörungen jeweils eine bestimmte pathogenetische Familienstruktur zu beschreiben, sind jedoch gescheitert.
Essstörungen haben vielschichtige Ursachen
Heute geht man davon aus, dass Anorexia und Bulimia nervosa multifaktorielle Ursachen haben. In Bezug auf die Familienstrukturen soll es Unterschiede zwischen beiden Erkrankungen geben. Während die Familien magersüchtiger Patienten angeblich eher dazu neigen, Konflikte und unangenehme Gefühle zu verdrängen, kann es im Familienverband von Essgestörten mit Bulimie lautstark zugehen. Dort werden die Konflikte offener und aggressiver ausgetragen. Gemeinsam ist beiden eine starke Leistungsorientierung.
Kein Wunder, dass sich Familienangehörige von Essgestörten immer wieder schuldig fühlten an der Erkrankung des Familienmitgliedes – oder sich schuldig fühlen sollten. „Im Internet steht leider noch viel Unsinn“, sagt dazu Prof. Dr. Martina de Zwaan, Leiterin der Psychosomatischen und Psychotherapeutischen Abteilung des Universitätsklinikums Erlangen. „Selbstverständlich können familiäre Kommunikationsprobleme zur Entstehung und Aufrechterhaltung jeder psychischen Störung beitragen, auch der Anorexie. Aber wir weisen keine Schuld zu.“ Prof. de Zwaan ist an der weltweit ersten Multicenter-Studie zur ambulanten Therapie von Betroffenen mit Anorexia nervosa beteiligt.
Verurteilen ist verboten
Auch Prof. Dr. Günter Reich von der Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie der Universität Göttingen, der seit 2008 an einem Forschungsprojekt zur Psychotherapie bei Bulimie arbeitet, will nicht von Mitschuld reden, wohl aber von der Mitursache familiärer Strukturen bei der Entstehung von Essstörungen. Er weist darauf hin, dass das Körperbild von Kindern und Jugendlichen natürlich unwillkürlich auch durch die Eltern mitgeprägt wird. Dennoch muss man nach seinen Worten in dieser Frage „sehr vorsichtig mit Urteilen“ sein.
Diese Ansicht vertritt auch die Academy for Eating Disorders (AED) in ihrem Positionspapier zur Rolle der Familie bei Essstörungen. Während Familienstrukturen sehr wohl eine wichtige Rolle bei der Entstehung oder Aufrechterhaltung von Essstörungen spielen könnten, müsse man die Vorstellung zurück weisen, dass sie entweder die ausschließliche oder wenigstens die primäre Ursache einer Essstörung seien, heißt es in dem Papier. Die AED-Autoren verurteilen generalisierende Aussagen, welche Eltern die Schuld an der Erkrankung ihres Kindes geben. Vielmehr seien Eltern in die Therapie der Essstörung einzubeziehen, sofern nichts dagegen spricht, vor allem bei jüngeren Erkrankten. Die „anorektogenen Eltern“ gibt es also nicht – wohl aber Familienangehörige, die so unter der Essstörung eines Familienmitgliedes leiden, dass sie selbst Hilfe benötigen.