Deutschland, Präventionsland. Krankenkassen fördern die Gesundheit ihrer Mitglieder durch Ermunterungen, an Kursen gegen Rückenschmerz oder Übergewicht teilzunehmen. Doch was bringt das wirklich? Forscher behaupten: Wer vorbeugt hat das Nachsehen.
Seit dem 1.1.2000 sind die gesetzlichen Krankenkassen verpflichtet, in die Prävention ihrer Mitglieder zu investieren. 2,81 Euro je Versichertem dürfen die Krankenkassen nach der gegenwärtigen Rechtslage für Bonus-Programme aufwenden. Möglich sind Geldleistungen, etwa die Befreiung von Zuzahlungen, noch stärker angeboten werden jedoch Sachleistungen. Im Buhlen um mehr Mitglieder und natürlich im Bemühen um mehr Gesundheit bieten daher heute alle Kassen ihren Mitgliedern eine Vielzahl von Optionen an, mit der Teilnahme an allerlei Maßnahmen Geld zu sparen oder Sachleistungen zu ergattern, etwa eine Pulsuhr oder einen Rucksack.
Vorbeugung ist gut! Basta!
Nun ist im Allgemeinen wenig zu sagen gegen die Förderung gesunden Verhaltens, außer vielleicht, dass auch Bonus-Programme eine gewisse Art der Sanktionierung „abweichlerischen Verhaltens“ sind, obwohl hinter den Programmen die Intention steht, zu motivieren und nicht zu bestrafen. Außerdem ist für manchen, überwiegend präventiv lebenden Zeitgenossen jede Kritik am Sinn all der schweißtreibenden oder sonstwie kasteienden Bemühungen fast schon Ketzerei. Und wer will sich schon dem Vorwurf der Ketzerei oder „political incorrectness“ aussetzen? Vorbeugung ist einfach gut! Basta!
Aber angesichts der Rigidität, mit der die Krankenkassen, Gemeinsamer Bundesausschuss und das IQWiG unter Verweis auf mangelnde wissenschaftliche Evidenz vor allem moderne Arzneimittel aus dem Leistungskatalog der GKV ausschließen, stellt sich schon die Frage, wie „evidenzbasiert“ eigentlich all jene Gesundheitskurse und sonstigen Maßnahmen sind, die die Krankenkassen anbieten. Und ob die angebotenen Gesundheitskurse wirklich geeignet sind, durch Prävention langfristig Kosten zu reduzieren.
Dürftige Daten
Der Wettbewerb zwinge dazu, heißt es. Aber da es ja vor allem um mehr Gesundheit geht oder gehen sollte, ist es sicher nicht unberechtigt, die Angebote der Kassen ein wenig unter die Lupe zu nehmen. Was man da allerdings zu sehen bekommt, stimmt zumindest nachdenklich. Denn gemessen an den Kriterien der evidenzbasierten Medizin etwa, wie sie das Kölner Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) an moderne Arzneimittel anwendet, ist die Datenlage zur Wirksamkeit mancher vorbeugenden oder gesunderhaltenden Maßnahmen recht bescheiden. So drängt sich der Verdacht auf, dass es hier weniger, wenn überhaupt, um hehre Gesundheitsziele geht als vielmehr ums Buhlen um neue Mitglieder. „Die Prämiensysteme sind oft reine Werbeaktionen“, kritisiert zum Beispiel Wolfgang Schuldzinski, Gesundheitsexperte der Verbraucherzentrale NRW. „Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich viele der Aktionen als reines Marketing“, heißt es auch in einem Beitrag der FTD von Julia Kimmerle.
Nur moderate Evidenz – wenn überhaupt
Nur ein Beispiel dafür, wie gering die wissenschaftlichen Belege für Gesundheitskurse sein können, sind Kurse zur Rückenschulung oder auch, etwa moderner formuliert, das Rücken-Coaching.
Die „Cochrane Collaboration“ hat dazu 19 randomisierte und kontrollierte Studien mit insgesamt 3584 Patienten analysiert. Das Ergebnis - in diesem Jahr veröffentlicht - ist ernüchternd. So lautet das Fazit der Wissenschaftler der „Cochrane Collaboration“: „Die methodische Qualität (der Studien) war niedrig.“ Nur sechs der 19 Studien seien als hochwertig eingestuft worden. Und: Nur moderat sei die Evidenz dafür, dass Rückenschul-Kurse im Vergleich zu anderen Maßnahmen, etwa Placebo oder Abwarten, Rückenschmerz-Patienten kurz- und mittelfristig etwas nützen. Weitere, methodisch hochwertige Studien seien daher notwendig. Noch kritischer ist das Urteil der „Cochrane Collaboration“ zur Wirksamkeit edukativer Maßnahmen wie Ratschlägen zur körperlichen Aktivität, zur Stress-Bewältigung und auch HWS-Schulung bei Patienten mit HWS-Schmerzen. Hier ergab die Analyse von zehn Studien - nur zwei waren übrigens methodisch hochwertig - überhaupt keine Wirksamkeit. Auch eine Gruppe deutscher Wissenschaftler der Fachhochschule Osnabrück fällt in einer aktuellen Übersichtsarbeit zur Prävention von Rückenschmerzen die recht deutliche Aussage: „Rückenschulen wurden jahrelang als Präventionsmaßnahme für Rückenschmerzen angewandt, obwohl der Erfolg relativ gering ist.“
Zu wenige Daten zu Pilates
Etwas dürftig sind zum Beispiel auch die wissenschaftlichen Belege zu der besonders beliebten Pilates-Methode, die Anfang des vergangenen Jahrhunderts von dem in Mönchengladbach geborenen Joseph H. Pilates entwickelt worden war. Vor zwei Jahren war diese Methode in einem Spiegel-Beitrag sogar wegen angeblicher Schädlichkeit, fragwürdiger Angebote und schlecht ausgebildeter Trainer heftig kritisiert worden. Nur zwei methodische gute Studien zur Wirksamkeit hat die US-Wissenschaftlerin Susan Sorosky für eine 2008 veröffentlichte Übersichtsarbeit gefunden. Die Ergebnisse, so Sorosky, seien zwar recht positiv. Ein definitives Urteil aber zum Nutzen der Methode für Patienten mit unspezifischen Rückenschmerzen sei aufgrund der schlechten Datenlage noch nicht zu fällen.
Präventionskurse zu simpel gestrickt
Dass noch ein erhebliches Optimierungspotential bei präventiven Maßnahmen und ihrer Erforschung besteht, lässt auch eine aktuelle Analyse von so genannten „gesundheitsbezogenen Interventionen am Arbeitsplatz“ vermuten, die vor wenigen Monaten von der österreichischen Wissenschaftlerin Judith Goldgruber veröffentlicht worden ist. Ihre Analyse von Interventionen gegen Rauchen, Stress, Rückenschmerzen und für mehr Bewegung sowie gesunde Ernährung ergab zwar nicht, dass all diese Interventionen wirkungslos sind. Bei immerhin fast 70 Prozent der Interventionen konnten Effekte nachgewiesen werden. Aber: Bei mehr als der Hälfte der Maßnahmen (51 %) war keine (31%) oder nur eine schwache Evidenz (20%) für eine Wirksamkeit feststellbar. „Mit nachhaltiger Gesundheitsvorsorge haben viele Präventionskurse wenig zu tun - weil sie zu simpel gestrickt sind“ sagte in einem Gespräch mit der FTD auch Markus Lüngen vom Institut für Gesundheitsökonomie und klinische Epidemiologie an der Universität Köln. Lüngen hatte zusammen mit anderen Forschern des Instituts 120 Studien aus 13 Staaten analysiert. Das Ergebnis: Kaum anders als bei der Analyse von Goldgruber fielen viele Maßnahmen in den methodisch anspruchsvolleren Studien durch. Lüngen: „Es hat sich gezeigt, dass die Forschung im Bereich Prävention in etwa auf dem Stand der heilenden Medizin von vor 25 Jahren steht.“
Der Teufel steckt im Detail
Immerhin bemühen sich die Kassen um eine Qualitätssicherung ihrer Angebote, in dem sie sich an einem Leitfaden der Spitzenverbände der Krankenkassen orientieren. Außerdem bedeutet ein Mangel an methodisch guten Studien und Daten zur Evidenz nicht automatisch, dass eine Intervention nutzlos ist. Vielleicht ist sie ja doch wirksam, allein der sichere Beweis steht noch aus. Auch ist nicht alles, was von den Kassen gefördert wird, sinnlos. Im Gegenteil: Das Meiste scheint durchaus sinnvoll zu sein. Wer etwa morgens durch den Wald joggt oder mit seinem Fitness-Coach durch die Weinberge wandert, tut seiner Gesundheit in der Regel Gutes - und sei es allein dadurch, dass er schwitzend und keuchend weder Sahnetorte noch Eisbein vertilgen wird und auch kaum rauchen. Ernährungs-Kurse zum Beispiel oder die Mitgliedschaft in einem Sportverein mögen der Gesundheit ebenfalls dienlich sein, wobei der Teufel bekanntlich im Detail liegt. Denn wer im Fitness-Studio überwiegend an der Bar steht und sich des Anblicks gestählter Körper auf dem Spinning-Rad oder auf der Multifunktions-Bank erfreut, wird seiner Gesundheit vielleicht nicht schaden, aber auch nicht nützen.