Der Berliner Regierungswechsel hat zu einem bizarren Theater um ein Gesundheitskarten-Moratorium geführt, das nie eines war. Vorwärts im digitalen Gesundheitswesen geht es dennoch nicht – anders als in den USA, wo Microsoft gerade Ernst macht.
Dass Google und Microsoft ehrgeizige Online-Ambitionen im Gesundheitswesen hegen, ist kein Geheimnis. Und dass sich Verbraucher in vielen Ländern nicht nur deshalb davon abhalten lassen, ihre Gesundheitsdaten im Netz zu verwalten, weil die Regierung sagt, dass es dazu eine elektronische Gesundheitskarte bräuchte, ist auch bekannt. In dem vor allem in den USA ausgetragenen Wettstreit um die beste Online-Akte scheint derzeit Microsoft die Oberhand vor Google zu haben.
Arzneimittel im Netz: Fast alles automatisch
Aktueller Beleg für diese These ist die Ausweitung der Kooperation zwischen Microsoft mit seiner internetbasierten HealthVault-Akte („Gesundheitstresor“) für jedermann und CVS Caremark, einem breit aufgestellten medizinisch-pharmazeutischen Dienstleister. CVS verdient sein Geld sowohl mit der Rezeptabwicklung für Dritte als auch mit rund 7000 eigenen Apotheken. Diese bieten durch in die Apotheke integrierte, MinuteClinic genannte Mini-Arztpraxen teilweise auch ärztliche Dienstleistungen an. Entsprechend ist CVS ein ziemlich naheliegender Lieferant für datenhungrige Onlineaktenanbieter wie Microsoft. Tatsächlich kooperieren Microsoft und CVS schon seit Sommer 2008. Auch Google hatte sich damals einen entsprechenden Kooperationsvertrag gesichert. Aber erst mit der jetzt erfolgten Ausweitung der Zusammenarbeit zwischen CVS und Microsoft deutet sich an, welches Potenzial hinter Online-Akten im Gesundheitswesen stecken kann, wenn medizinische Daten als Eigentum des Patienten begriffen werden. Kunden von CVS können sich mittlerweile Befunde, Laborwerte und andere ärztliche Dokumente, die in den MinuteClinics erhoben werden, in ihre HealthVault-Akte hochladen lassen. Sie können außerdem ihre komplette Medikationshistorie online schicken, zumindest insofern sich diese Historie aus Verschreibungen zusammensetzt, die in einer CVS-Apotheke eingelöst wurden. Der Clou ist jetzt das Zusammenspiel zwischen beidem: Wer seine CVS-Medikation online verwaltet, der kann bei Dauermedikamenten Rezeptverlängerungen direkt am Monitor beantragen. Via MinuteClinic werden die ärztlich abgenickt, und der Kunde kann sich seinen Refill dann in jeder beliebigen CVS-Apotheke abholen. Viel komfortabler geht so etwas nicht.
Medikamente digital verwalten – ein internationaler Trend
Um innovative Projekte in Sachen Online-Verwaltung von Arzneimitteln zu finden, muss man aber nicht zwangsläufig über den großen Teich. Österreich tuts auch. Dort soll die österreichische Gesundheitskarte E-Card um eine elektronische Arzneimitteldokumentation erweitert werden. Unter dem Namen Arzneimittel-Sicherheitsgurt wird diese von der österreichischen Apothekerkammer nicht – wie das wahrscheinlich in Deutschland üblich wäre – kritisch begleitet, sondern viel mehr mit Verve vorangetrieben.
Womit wir bei der Situation in Deutschland wären. Hier hat sich in Teilen des medizinischen Establishments offenbar ein solcher Frust über die Gesundheitspolitik breit gemacht, dass jetzt jede Äußerung der neuen Bundesregierung flugs als Beginn einer neuen Heilslehre (fehl)interpretiert wird. Kein anderes Thema hat das so schön gezeigt, wie die elektronische Gesundheitskarte. Der Koalitionsvertrag war kaum beschlossen, da jubelten weite Teile der Ärzteschaft über ein angebliches Gesundheitskarten-Moratorium. Die Massenmedien haben das bereitwillig aufgegriffen. Dass rein gar nichts von einem Moratorium im Koalitionsvertrag steht, interessierte erst mal niemanden, bis Philipp Rösler vor wenigen Tagen in einem auch nur aus Versehen öffentlich gewordenen Brief an seinen Kollegen Laumann in Düsseldorf beteuerte, die Karte komme natürlich.
Opportunisten unter sich
Den Vogel hat allerdings diesmal nicht die Ärzteschaft, sondern die AOK Nordrhein abgeschossen. Die hat das Rauschen im Blätterwald nämlich kräftig befeuert mit der geschickt lancierten Meldung, die AOK stoppe die Ausgabe der elektronischen Gesundheitskarten in Nordrhein wegen der unklaren politischen Lage. Zu diesem Zeitpunkt war zwar noch gar nichts unklar. Aber der AOK war das egal, denn die Meldung vom Kartenstopp hatte ohnehin einen ganz anderen Hintergrund. Die elektronischen Gesundheitskarten der AOK Nordrhein haben nämlich noch nicht die Gematik-Zulassung für den Online-Rollout. Das aber wird von Experten als Voraussetzung dafür angesehen, dass Karten überhaupt ausgegeben werden können, da sonst die Gefahr besteht, dass die Krankenkasse sie wieder einsammeln muss. Mit anderen Worten: Die AOK Nordrhein hätte wohl – anders als andere Krankenkassen – gar nicht in großem Umfang Karten ausgeben können, selbst wenn sie das gewollt hätte. Was bleibt, ist die deprimierende Erkenntnis, dass die elektronische Gesundheitskarte mit jeder derartigen Aktion weiter an Glaubwürdigkeit verliert.
Nicht einmal die deutschen Apothekerverbände, die der elektronischen Arzneimitteldokumentation via eGK immer sehr aufgeschlossen gegenüberstanden, trauen sich mehr aus der Deckung. Stattdessen lassen sie sich von den Ärzten zur Unterschrift unter eine komplett nichtssagende Erklärung überreden, die sich darin erschöpft, von anderen, nämlich von Herrn Rösler, eine Neuausrichtung des Projekts eGK zu fordern. Schade.