Kaltblütig geplant oder nach wenigen Worten ausgerastet? Was geht in Jugendlichen vor, die ihrem Hass auf ihre Umwelt freien Lauf lassen und ihre Opfer verprügeln oder gar erschießen? Antworten geben nicht nur Psychologen, sondern wohl bald auch Hirnforscher.
Sirenen heulen, Polizisten riegeln das Gelände großräumig ab. Spezialeinsatzkommandos können den Gewalttäter schließlich stoppen, bevor er noch mehr Menschen verletzt oder gar tötet. Wer denkt bei solchen Szenen nicht an Winnenden, Erfurt oder an das Gymnasium im bayrischen Ansbach, dem jüngsten Fall eines Schul-Amoklaufs. Was ist mit Jugendlichen los, die sich mit wenigen Worten provozieren lassen und dann blindwütig auf ihren Gegner einschlagen? Schluss ist erst, wenn ihr "Feind" tot am Boden liegt, wie zuletzt am Bahnsteig in München-Solln.
Neunzig Prozent sind psychisch krank und unzurechnungsfähig?
Raucher aktivieren ihr Belohnungszentrum im Gehirn, sobald sie sich eine Zigarette anstecken, Alkoholiker tun es mit Wein oder Bier. Jugendliche mit Gewaltpotential zeigen ganz ähnliche Antworten in der Amygdala und dem ventralen Striatum, wenn sie Schmerzen bei anderen nach einem Unfall oder einer Schlägerei beobachten. Die Ergebnisse einer Kernspin-Untersuchung besonders brutaler Jungen im Alter zwischen 16 und 18 veröffentlichte Jean Decety von der Universität Chicago anfangs des Jahres in der Fachzeitschrift Biological Psychology. Unauffällige Jugendliche zeigen keine solch starke Aktivierung in den entsprechenden Hirnzentren.
Frank Schneider von der Universität Aachen schaute in das deutsche Gefängnis Brackwede I bei Bielefeld und fand in einer Studie mit rund 140 Gefangenen heraus, dass neun von zehn Straftätern psychisch krank sind oder an einer Persönlichkeitsstörung leiden. Entsprechende Therapieangebote fehlen dort in der Regel. Die Erfahrung aus diesen Studien ist: Vielen Gewalttätern geht die Fähigkeit zur Empathie ab, die Empfindung für die Gefühle des Anderen. Ohne eigenes Schuldbewusstsein lassen sie Strafen kalt. Sind sie für Ihre Taten überhaupt verantwortlich oder macht ihr Gehirn mit ihnen, was es will und zu was es vorbestimmt ist? Das deutsche Strafgesetzbuch, Paragraph 20 sagt: "Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung ...unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln."
Kontrollverlust im Stirnhirn
Die Kontrolle für impulsive Handlungen liegt im menschlichen Gehirn im präfrontalen Kortex, der die Emotionen in Amygdala und Hypothalamus nicht ausufern lässt. Erwachsene mit Läsionen in diesem Bereich sind impulsiv und zuweilen enthemmt. Antonio Damasio aus dem amerikanischen Iowa beschreibt einen Patienten, dem Chirurgen im Alter von drei Monaten einen Tumor aus der Stirn entfernten. Als Neunjähriger war der Junge extrem lethargisch und hatte nicht selten "Ausraster". Kaum provoziert, bedrohte er Menschen in seiner Umgebung oder ging gleich zum Angriff über. Unter dem Schutz eines fürsorglichen Elternhauses wuchsen seine Geschwister ohne solche Auffälligkeiten auf. Als weiteres Beispiel mit ähnlicher Entwicklung berichtet Damasio von einem Autounfall-Opfer mit einem Hirnschaden im Frontalhirn.
Im Jahr 1972 begann in Neuseeland eine bedeutende Studie zur Entwicklung der Persönlichkeit eines Menschen. Forscher beobachten seitdem fast alle rund eintausend Jugendliche eines Jahrgangs der Stadt Dunedin von ihrem dritten Lebensjahr an. Alkohol und Drogen sind demnach Hauptrisikofaktoren für die Gewaltkarriere, vor allem bei jungen Männern. Und wer dann einmal mit dem Gefängnis in Kontakt gekommen ist, dessen Chancen sinken rapide, aus dem Teufelskreis auszubrechen. Denn die Bedingungen hinter Gittern sorgen, so ist sich Bernard Gesch von der Universität Oxford sicher, für eine Fortsetzung der Gewalt-Karriere. Seine Studien ergaben, dass die Gefängniskost die Aggressivität fördert. Eine zweijährige Untersuchung im Aylesbury-Gefängnis bei London zeigt, dass gezielte Vitamin- und Mineralienzusätze im Essen die Angriffe auf Mitgefangene und Aufseher um ein Drittel verringern. Eine Anschlussstudie im Jugendgefängnis im schottischen Falkirk, über die vor kurzem Science berichtete, soll nun noch genauer klären, woran es in der Gefangenenkost mangelt und welche Zusätze dabei effektive Abhilfe schaffen.
Entwischen benötigt einen wachen Geist
Besonders wichtig scheinen dabei die Omega-3-Fettsäuren zu sein. Sie helfen Nervenzellen bei der Reifung im Gehirn und sorgen so für mehr Aufmerksamkeit und Impulskontrolle. Adrian Reine von der Universität Pennsylvania verteilt etwa im amerikanischen Philadelphia und im asiatischen Singapur Omega-3-Tabletten an Kinder und will deren Effekt auf ihre Gewaltbereitschaft untersuchen. Der amerikanische Psychologe schaffte es auch mit absoluter Vertraulichkeit, Gewalttäter für seine Studien zu gewinnen, die klug genug waren, sich nicht von der Polizei erwischen zu lassen. Im Vergleich mit überführten Tätern war deren Nervenzelldichte im präfrontalen Kortex wesentlich größer. Ähnliche Unterschiede sahen die Psychologen auch bei Mördern: Tötung im Affekt scheint in diesem Gehirnabschnitt mit einem geringeren Serotonin-Stoffwechsel und entsprechender Unterversorgung zusammenhängen, während geplante Morde genauso wie die Irreführung der Verfolger einen wachen Geist benötigen.
Vitaminreiche Ernährung wäre daher ein - zudem kostengünstiger - Ansatz, bei gefährdeten Jugendlichen vielleicht manche Gewalttat verhindern. Und wer trotz alledem mit voller geistiger Reife Straftaten begeht, muss sich vielleicht schon bald einem Hirnscan und einem Serotonintest unterziehen. Ihm wird es in Zukunft wohl schwerer fallen, Gutachter und Richter in Zukunft über seine Zurechnungsfähigkeit zu täuschen.