Das „rosa Viagra“ steht vor der Tür: Beim 12. Kongress der European Society of Sexual Medicine wurden jetzt neue Daten zu dem „Aphrodisiakum“ Flibanserin vorgestellt. Es soll der Frau Lust auf mehr machen. Hoffen die Männer…
Selten hat eine neue Pille so lange vor ihrem Markteintritt so viel Wirbel gemacht. Schon der Spitzname spricht Bände: Von „rosa“ und damit „weiblichem“ Viagra sprechen viele Medien in Anspielung auf die bläuliche Farbe des bekannten Blockbusters gegen die männliche erektile Dysfunktion. Bereits die Daten der Phase II-Studien zu Flibanserin wurden von einem beispiellosen medialen Gewitter begleitet, bei dem sich die Protagonisten vor allem über die Einordnung der weiblichen sexuellen Dysfunktion als Erkrankung echauffierten. Die Reaktionen waren kritisch bis ablehnend. Von Lust-Druck war die Rede, und auch von einer von Pharma-Firmen gesponsorten Erkrankung wurde gesprochen.
Indikation für Flibanserin: Nicht wollen, aber sollen
Hersteller Boehringer Ingelheim hat sich von diesen Wogen verständlicherweise nicht beeindrucken lassen. Das Unternehmen hat die klinische Evaluation von Flibanserin vorangetrieben. Beim 12. Kongress der European Society of Sexual Medicine wurden jetzt die Daten der Zulassungsstudien vorgelegt. Und die sehen so aus, als könnte Flibanserin demnächst in den Apothekenregalen aufschlagen. Interessant ist allerdings, dass Boehringer-Ingelheim über Flibanserin bisher nur auf seinen englischsprachigen Internetseiten informiert, nicht aber im deutschen Bereich.
Rein vom Wirkmechanismus her hat Flibanserin mit Viagra nichts, aber auch gar nichts gemein. Viagra hemmt bekanntlich „vor Ort“ die Phosphodiesterase 5 und sorgt auf diesem Wege für eine bessere Durchblutung der männlichen Schwellkörper. Entsprechend wirkt es besonders gut, wenn die erektile Dysfunktion Folge von Durchblutungsproblemen ist, wie das oft im Alter der Fall ist. Flibanserin dagegen war in seinem früheren Leben ein Antidepressivum beziehungsweise hätte eines werden sollen. Entsprechend wirkt es zentral im Gehirn, und nicht in der Peripherie. Es ist ein Agonist am 5-HT1A-Rezeptor und ein Antagonist am 5-HT2A-Rezeptor. Als Antidepressivum scheiterte Flibanserin. Doch fiel im Nebenbefund auf, dass es die sexuelle Lust bei Frauen steigern könnte. Die Daten aus den Phase II-Studien hatten diese Beobachtung bestätigt. Entsprechend gespannt warteten Sexualmediziner auf die Phase III-Studien.
Sexuelles Verlangen wird gesteigert
In Lyon wurden jetzt die Ergebnisse von vier großen Zulassungsstudien vorgestellt. DAISY, VIOLET und DAHLIA waren nordamerikanische Studien, ORCHID war das europäische Äquivalent. Zusätzlich zu den Einzeldaten gab es auch mehrere gepoolte Analysen. Aber zunächst einmal zur Erkrankung, oder wie immer man es nennen mag: An den Studien nahmen durchweg prämenopausale Frauen mit „Hypoactive Sexual Desire Disorder“ (HSDD) teil. Das soll die Indikation für Flibanserin sein. Böse Zungen haben das so umschrieben: Während Viagra Männern helfe, die wollen, aber nicht können, helfe Flibanserin Frauen, die sollen, aber nicht wollen. Nochmal anders: Viagra sei eine Krücke, Flibanserin eine Gehirnwäsche. Man kann da natürlich auch anders zu stehen: „Untersuchungen haben gezeigt, dass HSDD eine weit verbreitete Form der weiblichen sexuellen Dysfunktion ist“, sagt beispielsweise Professor Rossella Nappi von der Universität Pavia. „Als Ergebnis der Studien können wir festhalten, dass Flibanserin das Potenzial hat, vielen Frauen zu helfen, die unter einem Mangel an sexuellem Verlangen leiden:“
Amerikanische Frauen: Besser medikamentös stimulierbar…
Wie auch immer man dazu stehen mag, die Daten liegen jedenfalls jetzt auf dem Tisch. Für die gepoolte Analyse aus DAISY und VIOLET wurden 1378 Frauen ausgewertet, die entweder täglich 100mg Flibanserin oder Placebo über 24 Wochen erhalten hatten. Die Anzahl befriedigender sexueller Kontakte (satisfying sexual episodes, SSE) pro Monat stieg in der Verumgruppe von 2,8 auf 4,5 und in der Placebo-Gruppe von 2,7 auf 3,7. Auch wenn es erst mal nicht so klingt, war der Unterschied signifikant. Das mittels eines elektronischen Tagebuchs ermittelte sexuelle Verlangen stieg bei Flibanserin-Behandlung ebenfalls signifikant stärker an.
Europäische Frauen haben sich mit Flibanserin ein wenig schwerer getan. Die Zahl der SSE stieg zwar auch hier bei insgesamt 634 Teilnehmerinnen unter Verum-Therapie stärker an als unter Placebo-Therapie. Das Signifikanzniveau wurde aber verfehlt. Der Unterschied beim sexuellen Verlangen war dagegen auch in Europa signifikant, und wenn alle drei Studien zusammengewürfelt wurden, waren auch die SSE wieder statistisch im Lot, sprich signifikant besser bei Verum-Therapie. Bei den unerwünschten Wirkungen dominierten Somnolenz, Schwindel, Übelkeit und Fatigue. Immerhin rund 15 Prozent der Frauen brachen die Behandlung mit Flibanserin wegen UAW ab, gegenüber 5 bis 8 Prozent bei Placebo. „Die Daten zeigen, dass 100mg Flibanserin eine effektive und gut verträgliche Behandlung für Frauen mit HSDD ist“, sagte Professor Elaine Jolly vom Shirley Greenberg Women’s Health Centre am Krankenhaus Ottawa. Zum geplanten Zulassungsprozedere wollte sich Boehringer Ingelheim bisher nicht äußern.