Die Johns Hopkins-Studie erschien kurz vor der Abstimmung zur Gesundheitsreform in den USA. Der Bericht beeinflusste vermutlich den Ausgang der Wahl: 17.000 Kinder in 17 Jahren verstarben in amerikanischen Kliniken, weil sie keine Krankenversicherung hatten.
Für US-Präsident Barack Obama war es ein emotionales Deja Vù. Als am 21. November das Weiße Haus das "historische Votum“ erwähnte, vergaßen viele, dass die vom Obama versprochene Gesundheitsreform nur knapp durchkam. 58 Parteidelegierte der Demokraten und zwei unabhängige Senatoren ebneten dennoch den Weg für einen Gesetzentwurf, der allen US-Amerikanern eine Krankenversicherung ermöglichen soll. Womöglich hatten Obamas Unterstützer bei allen Zahlen und Statistiken, die in der Diskussion eingebracht wurden, vor allem eine Größe im Gedächtnis. Glaubt man einer Studie des Johns Hopkins Children’s Center, die nur einige Tage vor der Washingtoner Abstimmung im Fachblatt Journal of Public Health erschien verstarben zwischen 1988 und 2005 rund 17.000 Kinder in amerikanischen Krankenhäusern, weil sie keine Krankenversicherung hatten. Die Message der Publikation kam für den Präsidenten in besonders schlichter Weise daher. Für die einzige real existierende Supermacht der Welt am Ende der ersten Dekade des neuen Millenniums gilt nach wie vor: Krankenversichert – oder tot.
Dunkelziffer viel höher
Tatsächlich ist die Veröffentlichung von Fizan Abdullah für amerikanische Verhältnisse ein Novum. Mehr als 23 Millionen Krankenhausberichte aus 27 Bundesstaaten liefern die Basis der einzigartigen Untersuchung. Unter Berücksichtigung aller Faktoren fand das Team am Johns Hopkins Children’s Center heraus, dass unversicherte Kinder ein um 60 Prozent höheres Sterblichkeitsrisiko aufwiesen als jene kleinen Patienten, die versichert waren.
Als besonders besorgniserregend erweist sich vor allem ein Aspekt: Die hohe Sterblichkeit ist Abdullah zufolge unabhängig vom Schweregrad der Erkrankung. Auch sei die Dunkelziffer vermutlich höher, schrieben die Autoren – weil die Berichte lediglich den Zeitraum des Krankenhausaufenthalts berücksichtigen. Um die Zahlen exakt zu erfassen, setzten die Mediziner ein kompliziertes Simulationsprogramm ein. Denn aus den real vorliegenden Daten der 27 Bundesstaaten ließ sich erkennen, wie hoch die Sterblichkeit in diesen Gebieten war. So verstarben von 22,2 Millionen versicherten Kindern insgesamt 104.520, also 0,47 Prozent. Von 1,2 Millionen Unversicherten überlebten 9.468 den Aufenthalt nicht, demnach 0,75 Prozent. Diese Zahlen fütterten wiederum ein Computerprogramm, das anhand der Diagnosen und Behandlungsdaten die Todesfälle infolge einer fehlenden Krankenversicherung eruierte. Das Endergebnis des höchst komplexen Vorgangs verblüffte Kinderchirurgen Abdullah: Im Vergleich zu der versicherten Gruppe waren im unversicherten Pendant 16.787 Kinder mehr gestorben.
So seltsam es klingen mag: Eine klassische Zwei-Klassen-Medizin, bei der aus Kostengründen zwischen der Qualität der Leistungen unterschieden wird, gibt es für Kinder in den USA trotz dieser Statistiken nicht. Auch US-Krankanhausärzte tun alles, um Kinder zu retten. Das belegen die Zahlen, die Abdullah ebenfalls vorlegt: Einmal eingeliefert, erhielten alle Kinder in den meisten Fälle die gleiche Therapie, selbst die Aufenthaltsdauer unterschied sich statistisch betrachtet nicht. Warum aber sterben Nichtversicherte im Vergleich zu der versicherten Gruppe derart massiv? Eine Erklärung lieferte ebenfalls das mit Daten gefütterte Simulationsprogramm. Danach wurden Kinder ohne Krankenversicherung in den meisten Fällen über die Notaufnahme, also den Emergency Room, behandelt. Vorherige und exakte Diagnosen durch überweisende Ärzte fehlten ebenso wie wichtige Laboruntersuchungen, wie Abdullah zu erklären weiß. „Tausende von Kindern sterben jedes Jahr, weil wir ein Gesundheitssystem haben, das ihnen keine Krankenversicherung ermöglicht“, kritisiert Abdullah, und: „Es ist nicht eine Frage der Finanzierung, sondern der Moral“.
Ärzte im Visier der Senatoren
In Wirklichkeit freilich geht es um beides – und hochrangige Politiker entdecken die Ärzteschaft als Zielgruppe. So sorgte eine Stellungnahme des republikanischen Senators Chuck Grassley im New England Journal of Medicine (NEJM) am 19. November 2009 für Aufsehen, als dieser die Reformpläne Obamas als unpraktikabel darstellte und darauf verwies, dass am Ende mehr als 25 Millionen Amerikaner immer noch ohne Krankenversicherung dastehen könnten. Zudem, folgerte Grassley, sei die anstehende Reform kaum ökonomisch realisierbar. Vielleicht mag daher der US-Präsident trotz solcher Kritik seine Demokraten am vergangenen Samstag auch das mit auf den Weg in die Abstimmung mitgegeben haben: Weil die meisten Eltern ohne Krankenversicherung den Gang zum Pädiater schon aus Kostengründen scheuen, landen die kleinen Patienten erst dann im Krankenhaus, wenn sich die Erkrankung in einem sehr fortgeschrittenen Stadium befindet. Ohne Reform wird es auch in Zukunft für Tausende so bleiben: 46 Millionen Menschen in den USA sind derzeit nicht krankenversichert, 6 Millionen davon sind Kinder.