Seit März haben Mediziner mehr Spielraum, um Cannabis-Arzneimittel zu verordnen. Sie werden von Patienten mit Anfragen überhäuft. Doch eine Antwort zu geben, ist nicht leicht, es herrscht noch Informationschaos. Wo finden Ärzte und Apotheker verlässliche Fakten?
DocCheck wollte es wissen – und fragte bei Hausärzten, Fachärzten und Apothekern nach, ob sich ihre Arbeit verändert hat, seit der Gesetzgeber die Möglichkeiten zur Verschreibung von Cannabisarzneimitteln erweitert hat. Dr. Christa Roth-Sackenheim, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie aus Andernach, erhielt in den letzten Wochen etwa doppelt so viele Anfragen zur Pharmakotherapie mit Cannabis wie zuvor. „Durch das neue Gesetz haben deutlich mehr Patienten die Chance, Cannabis-Medikamente zu erhalten, wenn sie sie tatsächlich benötigen.“ Ein Nachteil sind ihrer Meinung nach teils schräge Erwartungen vieler Laien, die sich vorstellen, ab jetzt gebe es Joints auf Kassenrezept. „Derartige Wünsche gibt es auch in meiner Praxis.“ Das andere Extrem: Gut informierte, medizinisch wirklich bedürftige Patienten kämen mit „differenzierten Fragen“ in die Sprechstunde. Solche Patienten informieren sich vor dem Arztbesuch sehr gezielt durch Internetrecherche.
Fünf von DocCheck befragte Allgemeinmediziner beziehungsweise Hausärzte bestätigen dies nicht. „Es gab in den letzten Wochen keine Besonderheiten“, so Dr. Michael Müller aus München: Eine Erfahrung, die von seinen Kollegen, aber auch von Apothekern geteilt wird. „Den Effekt der Gesetzesänderungen merken wir bis jetzt überhaupt nicht“, ergänzt Ingrid Kaiser, Apothekeninhaberin aus Freising. „Wir hatten ein einziges Mal die Anfrage eines Kunden nach Cannabis, weil er es im Fernsehen gesehen hat.“ Er hoffte auf Linderung seiner Schmerzen. „Meiner Meinung nach war er nur sehr schlecht mit Medikamenten eingestellt, das heißt er bräuchte gar kein Cannabis, sondern wirksamere Schmerzmittel.“ Wieviel Zeit tatsächlich erforderlich sein wird, sollte es zu mehr Anfragen kommen, kann Kaiser nicht abschätzen: „Da noch viele Fragen offen sind, stelle ich mir den Aufwand anfänglich noch relativ hoch vor.“ Thomas Leitermann, Apothekenleiter aus Mühldorf am Inn, kann dies nur bestätigen: „Das breite Medienecho der Freigabe hat bei uns tatsächlich nur vereinzelte Anfragen von Personen verursacht, die durch diese Gesetzesänderung wohl nicht gemeint waren.“ Cannabisblüten hat er nach der neuen Regelung bislang noch nicht abgegeben.
Hier spricht der Pharmazeut ein heikles Thema an. Im Gesetz wird nicht zwischen zugelassenen Fertigarzneimitteln, Rezepturen gemäß NRF und Cannabisblüten unterschieden. Privatdozent Dr. Michael Überall, Präsident der Deutschen Schmerzliga und Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin, kritisiert das in einer Stellungnahme: Bei einer Anwendung sollte „im Interesse der Patientensicherheit zunächst die Alternative mit der höchsten Anwendungssicherheit in Erwägung gezogen werden“. Dabei handelt es sich um standardisierte Nabiximols-Fertigarzneimittel. Für Überall stehen Rezepturen mit THC, Dronabinol oder Nabilon an zweiter Stelle. Erst danach sieht er getrocknete Blüten. „Es ist schwer nachzuvollziehen, warum alles über einen Kamm geschoren wird und Pflanzen, die keine Zulassung brauchen, genauso behandelt werden wie ein Medikament, das zugelassen ist“, kritisiert der Experte. Zum Hintergrund: Laut Website der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Cannabinoidmedikamente unterscheiden sich verschreibungsfähige Sorten teils stark voneinander. Sie kommen derzeit noch aus Kanada oder den Niederlanden. Experten erwarten, dass erst in zwei bis drei Jahren Medizinalhanf aus deutscher Produktion zur Verfügung stehen wird. © Internationale Arbeitsgemeinschaft für Cannabinoidmedikamente
Mit einem Gehalt von 22 Prozent Tetrahydrocannabinol nimmt „Bedrogan“ die Spitzenposition ein. „Argyle“ liegt bei lediglich 5,4 Prozent, und „Bedrolite granuliert“ bei maximal einem Prozent. Je nach Sorte startet man mit 25 bis 100 Milligramm Pflanzenmaterial pro Tag und sollte gegebenenfalls langsam die Menge steigern. In einer älteren Studie mit 5.540 Patienten kamen Forsche rim Schnitt auf 0,68 Gramm Blüten pro Tag. „Da Cannabis nach bisher vorliegenden wissenschaftlichen Informationen eine relativ hohe therapeutische Breite besitzt, sollten Schwankungen der Wirkstoffgehalte im Akzeptanzbereich – wenn überhaupt – nur geringe Auswirkungen auf Wirksamkeit und Sicherheit der Therapie mit diesen Produkten haben“, informiert das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Effekte treten beim Inhalieren innerhalb von Sekunden bis Minuten ein und halten zwei bis drei Stunden an. Entscheiden sich Patienten für orale Applikationen, beginnt die Wirkung nach 30 bis 90 Minuten. Die Wirkdauer schwankt zwischen vier und acht Stunden. Beide Wege lassen sich kombinieren, wobei Pharmazeuten die inhalative Applikation favorisieren. Dr. Roth-Sackenheim, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, klärt Patienten über Vor- und Nachteile von Fertigarzneimitteln beziehungsweise Cannabis-Blüten auf. Neue Studien seien wichtig, aber in der Praxis nicht das vorrangige Problem. „Zu Beginn muss man ohnehin den Einzelfall prüfen und dann eine Dosisfindung beginnend mit sehr niedrigen Dosen durchführen“, berichtet die Expertin. „Leitlinien sagen ja nur, dass ein bestimmtes Verfahren noch keine Evidenz hat oder dass es keine hochwertigen Daten gibt. Sie schließen neue Therapiemöglichkeiten jedoch nicht aus.“ Im Einzelfall können Ärzte trotzdem Behandlungsversuche wagen. Ein Beispiel: „Cannabinoide sind in der Therapie chronisch neuropathischer Schmerzen nicht Mittel der Wahl“, heißt es in der zugehörigen S1-Leitlinie. „Sollten sich Beschwerden selbst durch fachgerechte Behandlung mit Mitteln gegen Nervenschmerzen oder auch Opioide nicht lindern lassen, kann man einen Versuch mit Cannabis wagen", ergänzt die Expertin.
Neuropathien sind nur eine Indikation für Cannabis. Zwischen 2007 und 2016 hat das BfArM Patienten mit mehr als 50 verschiedenen Erkrankungen beziehungsweise Symptomen Ausnahmegenehmigungen zur Therapie mit Medizinalhanf erteilt. Im Fokus stehen neurologische, psychiatrische, aber auch gastroenterologische, ophthalmologische oder dermatologische Krankheitsbilder. Der Arzt Franjo Grotenhermen aus Hürth bei Köln hat vor wenigen Monaten eine Übersichtsarbeit veröffentlicht, die Ärzten als grobe Orientierung dienen kann. Basis waren 140 Studien mit rund 8.000 Patienten. Besonders gut ist die Datenlage bei Übelkeit und Erbrechen durch Chemotherapien (33 kontrollierte Studien, 1.525 Patienten), Kachexien (zehn kontrollierte Studien, 973 Patienten), neuropathischen Schmerzen (35 kontrollierte Studien, 2.046 Patienten) oder Spastiken bei MS (14 kontrollierte Studien, 1,740 Patienten). Wann entsprechende Leitlinien angepasst werden, kann derzeit niemand sagen. © Grotenhermen et al. Dem stehen etliche Nebenwirkungen gegenüber. Cannabis erhöht möglicherweise das Risiko einer Psychose, wobei dosisabhängige Effekte von Bedeutung sind. Negative Folgen wurden für das Herz-Kreislauf-System und für die Gedächtnisleistung nachgewiesen. Andere Veröffentlichungen berichten vom Rückgang des Zahnfleischs. Euphorierende Effekte, Abhängigkeit und Entzug sind beim bestimmungsgemäßen Gebrauch nicht das Problem. Grund genug für Regierungsvertreter, Patienten am Straßenverkehr teilnehmen zu lassen. Ihnen drohe keine Sanktion, falls „Cannabis aus der bestimmungsgemäßen Einnahme eines für einen konkreten Krankheitsfall verschriebenen Arzneimittels herrührt“, schreiben Regierungsvertreter.
Wie so oft spielen neben wissenschaftlichen Fakten sozialrechtliche Aspekte eine große Rolle. Ärzte und Apotheker finden beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) weitere Informationen rund um BtM-Verordnungen. Die wichtigsten Punkte: Es muss sich um eine schwerwiegende Erkrankung ohne – nach ärztlicher Einschätzung – therapeutische Alternativen handeln. Gleichzeitig werden Aussichten auf eine spürbare positive Beeinflussung des Krankheitsverlaufs oder der Symptome gefordert: zwei äußerst schwammige Passagen. Von Medizinern fordert der Gesetzgeber, anonymisierte Daten an das BfArM zu übermitteln. Vor der ersten Verordnung muss die Erstattung vom Kostenträger genehmigt werden. GKVen beauftragen ihrerseits den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung mit der Prüfung, ob alle Voraussetzungen erfüllt sind. Ähnlich sollten Mediziner vorgehen, falls sie zugelassene Fertigarzneimittel außerhalb der jeweiligen Indikation verordnen. Das sind Spastiken aufgrund von Multipler Sklerose (Sativex®) beziehungsweise Übelkeit und Erbrechen infolge einer Chemotherapie (Canemes®).
Für Krankenkassen ist Cannabis zum schwer kalkulierbaren Kostenfaktor geworden. Sie fordern wenig überraschend, den tatsächlichen Stellenwert objektiv zu bewerten. „Für uns ist es wichtig, dass immer die Frage beantwortet wird, ob ein Cannabis-haltiges Medikament dem Patienten wirklich hilft oder ob es vielleicht bessere Alternativen gibt“, sagt Heidi Günther, Apothekerin bei der Barmer. Versicherte warnt sie, mit dem Cannabis-Gesetz könne es auch dazu kommen, dass Krankenkassen die Kostenübernahme für Cannabis ablehnten. Zahlen gibt es aber noch nicht.