Präparate auf Basis von THC haben günstige Wirkungen auf die Spastik bei Patienten mit Multipler Sklerose. Ein aktueller Review sieht jetzt auch einen Nutzen für Kombi-Präparate, sprich Cannabis-Extrakt aus ganzen Pflanzen. So richtig überzeugt die Statistik aber nicht.
Joints sind populär wie nie. Da ist es nicht weiter erstaunlich, dass es regelmäßig zu emotionalen Diskussionen kommt, wenn es um den Einsatz von Cannabis-Präparaten in der Medizin geht. Im palliativen Bereich, bei AIDS-Patienten mit Kachexie im weit fortgeschrittenen Stadium etwa und bei Krebspatienten mit schwerer Übelkeit, gilt die Wirkung von Präparaten auf Basis des Hauptwirkstoffs von Cannabis, Tetrahydrocannabinol (THC) als belegt.
Cannabis-Extrakt ist auch aus finanziellen Gründen attraktiv
Bei anderen Indikationen ist die Sache strittiger, etwa bei der Multiplen Sklerose. Die Situation sieht derzeit so aus, dass Cannabis – in welcher Darreichungsform auch immer – in Patientenforen als ein probates Mittel in der Behandlung von mit der MS assoziierten Spastiken angepriesen wird. Einige Experten sehen das auch so, aber weite Teile des Establishments stehen der Sache eher skeptisch gegenüber. Nicht dass die Behandlung rechtlich unmöglich gemacht würde. Eine Verordnung von Cannabis-Extrakten ist zwar grundsätzlich verboten. Es handelt sich um so genannte nicht-verschreibungsfähige Betäubungsmittel. Im Einzelfall kann auf Antrag aber sehr wohl eine Therapie initiiert werden. Einige wenige Dutzend Patienten in Deutschland machen davon derzeit Gebrauch. Es gibt außerdem die völlig legale Möglichkeit, das synthetische THC Dronabinol einzusetzen. Diese Substanz ist allerdings für viele Betroffene prohibitiv teuer: Mehrere hundert Euro pro Monat können leicht zusammen kommen. Die GKV übernimmt die Kosten nicht regelhaft. Auch deswegen bleiben die wesentlich preisgünstigeren Cannabis-Extrakt trotz Dronabinol in der Arena.
Die Datenlage zu Extrakten bei MS ist sehr begrenzt
So viel zur Politik. Aber auch wissenschaftlich ist die Sache noch am Kochen: Die Diskussionen über den klinischen Nutzen von Cannabis-Präparaten gehen auch international weiter. Der Fokus der klinischen Studien lag lange Zeit auf dem aus pharmazeutischer Sicht wichtigsten Bestandteil von Cannabis, dem schon genannten Wirkstoff THC. „Diese Studien haben in der Mehrzahl einen therapeutischen Nutzen bei MS-Symptomen gezeigt. Es gibt jedoch Bedenken wegen potenzieller Intoxikationen und anderer Nebenwirkungen“, betont der Wissenschaftler Shaheen Lakhan von der gemeinnützigen Global Neuroscience Initiative Foundation in Los Angeles. Vor allem aus diesem Grund wird nach Alternativen gesucht. Ein vielversprechender Kandidat war der zweite zentrale Cannabis-Wirkstoff, das Cannabidiol. Auch hierzu gab es Studien im Kontext von MS. „Sie zeigten eine Verringerung der mit der Spastik einhergehenden Schmerzen, aber nicht der Spastik selbst“, so Lakhan. Zunehmend werden deswegen auch bei MS Extrakte der ganzen Pflanze eingesetzt, also Präparate, die THC und Cannabidiol enthalten. Lakhan zufolge sind sie tendenziell verträglicher als THC alleine. Bleibt die Frage der Wirksamkeit.
Insgesamt sei die Datenlage zu den Extrakten bei MS-Patienten noch nicht sehr befriedigend, so Lakhan, der sich in der Literatur umgesehen hat. Das Ergebnis ist ein aktueller systematischer Review zu kombinierten Cannabis-Therapien bei MS und speziell zum Effekt dieser Präparate auf das Kardinalsymptom Spastik. „Cannabis lindert Spastiken bei MS“, so die Interpretation der Ergebnisse, die auf dem Tenor des Abstracts bei BMC Neurology basiert und die dann auch in zahlreichen Foren und Newsportalen im Internet ihren Widerhall fand.
Keine objektivierbaren Effekte auf die Spastik
Bei genauerem Hinsehen freilich ist „Cannabis lindert Spastiken bei MS“ schon eine ziemlich gewagte Auslegung der Daten. Lakhan fand überhaupt nur sechs randomisiert-kontrollierte Studien zu Präparaten, die sowohl THC als auch Cannabidiol enthielten und die bei MS getestet worden waren. Das war schon einmal zu wenig und die Studien waren vor allem heterogen, um eine Metaanalyse nach den strengen Kriterien der evidenzbasierten Medizin machen zu können. Das wollte er zwar ursprünglich, doch davon musste er sich verabschieden. Blieb nur die eher deskriptive Herangehensweise des Reviews.
Dessen wirkliche Ergebnisse sind schnell erzählt. Während fast alle Studien beim subjektiv eingeschätzten Schweregrad der Spastik im Vergleich zur Kontrollgruppe signifikante Verbesserungen registrierten, wenn mit Cannabis-Extrakt im Verum-Arm therapiert wurde, waren die Ergebnisse bei objektiven Parametern für das Ausmaß der Spastik praktisch durchweg negativ. Auch bei der durchschnittlichen Gehzeit, einem noch relativ objektiven Parameter, gab es in den nur zwei Studien, in denen er untersucht wurde, keinen signifikanten Effekt der Cannabis-Extrakte. Allenfalls im Trend war hier und da eine Verbesserung zu erkennen. Fazit: Dass Cannabis-Extrakt auf Basis ganzer Pflanzen subjektiv gut tut, wurde erneut belegt. Das ist aber keine Neuigkeit, weder bei MS noch sonst wo. Dass Cannabis-Extrakt bei MS objektiv was bringt, dieser Beweis steht immer noch aus.