Neurologische Erkrankungen wie Morbus Alzheimer äußern sich schon zehn Jahre vor dem Befund mit Prodromalsymptomen. Bei Multipler Sklerose führen erst die Krankheitsschübe zur Diagnose. Deswegen suchen Neurologen nach ähnlichen Besonderheiten bei MS.
Mit einer Prävalenz von 149 Erkrankten auf 100.000 Einwohner ist Multiple Sklerose (MS) die häufigste chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Symptome treten erstmalig zwischen dem 15. und 40. Lebensjahr auf. Die Krankheitsschübe führen letztlich zur Diagnose und zur Therapie. Professor Dr. Helen Tremlett von der University of British Columbia bewertet dies als „vertane Chance“. Sie verweist auf Morbus Alzheimer und Morbus Parkinson. Hier treten Prodromalsymptome bis zu zehn Jahre vor der klinischen Manifestation auf. Grund genug für Neurologen, bei MS nach ähnlichen Besonderheiten zu suchen.
Zusammen mit Kollegen hat Tremlett elektronische Krankenakten von 14.428 MS-Patienten analysiert. Sie interessierte sich speziell für die Zeiträume bis zur Diagnose. Zum Vergleich dienten 72.059 Kontrollen mit ähnlichen Profilen hinsichtlich des Alters, des Geschlechts und hinsichtlich weiterer Erkrankungen, allerdings ohne das entzündliche Nervenleiden. Erste Auffälligkeiten seien bis zu fünf Jahre vor der neurologischen Diagnose aufgetreten, schreiben die Autoren. Betroffene nahmen in dieser Prodromalphase mehr medizinische Leistungen in Anspruch (plus 26 %), waren häufiger in stationärer Behandlung (plus 24 %) und erhielten mehr Arzneimittel (plus 49 %). Ärzte rechneten mehr Leistungen ab (plus 88 %), jeweils verglichen mit der Kontrollgruppe.
Die beschriebenen Auffälligkeiten sprechen im Praxisalltag ohne Vergleichsmöglichkeit nicht unbedingt für MS, sondern könnten mit etlichen Erkrankungen in Verbindung stehen. Tremlett und Kollegen sehen als großen Vorteil ihrer Arbeit, dass Daten automatisch analysiert werden. Jetzt wollen sie nach spezifischen Anzeichen suchen, um Patienten früher zu identifizieren. Ziel ist, beim schubförmigen Verlauf möglichst früh mit immunmodulatorischen Therapien zu beginnen, um axonale Schäden zu begrenzen. Zu den Wirkstoffen gehören Glatirameracetat, Fumarsäuredimethylester und Beta-Interferone. Darüber hinaus hofft Tremlett auf Impulse für die Forschung: „Der Nachweis, dass Patienten bereits fünf Jahre vor der Diagnose ihr Verhalten ändern, zeigt uns, dass wir früher ansetzen müssen, um zu verstehen, welche Ursachen die Krankheit hat.“