Multiple Sklerose gilt als chronisch entzündliche Autoimmunkrankheit des Zentralen Nervensystems. Anderer Meinung sind italienische Forscher: Sie sind von venösen Durchblutungsstörungen von Hirn und Rückenmark als Auslöser überzeugt.
Die Multiple Sklerose (MS) ist eine häufige chronische Autoimmunerkrankung des Nervensystems mit Zerstörung der Myelinscheiden – darüber sind sich Experten einig. Symptome und Verlauf sind allerdings oft vollkommen unterschiedlich, ebenso wie die Ätiologie noch nicht verstanden ist. Die Diagnose ist alles andere als einfach und erfolgt nach den McDonald Kriterien, die jedoch manchmal erst nach Jahren, manchmal auch nie erfüllt sind. Therapeutisch sollen verschiedene Immunmodulatoren das fehlgeleitete Immunsystem zur Ruhe bringen.
Die etwas andere Theorie
Eine ganz andere Theorie zur möglichen Ursache von MS haben Forscher um Paolo Zamboni vom Vascular Diseases Center der Universität von Ferrera. Sie vermuten eine Störung der extrakranialen venösen Drainage als Ursache von MS. Bei 65 MS-Patienten und 235 Kontrollpersonen, darunter Gesunde, ältere Menschen und Patienten mit anderen neurologischen Erkrankungen, hatten die Forscher Venografien und hochauflösende Dopplersonografieuntersuchungen des venösen Systems im und außerhalb des Gehirns veranlasst. Bei MS-Patienten fanden die Wissenschaftler gegenüber Kontrollpersonen signifikant häufiger Abflussstörungen des extrakranialen venösen Systems. In V. jugularis interna und V. azygos fanden sich bei 91 und 86 Prozent der MS-Patienten z.T. hochgradige Stenosen, die den Blutfluss beeinträchtigten oder gar umkehrten, sodass das Blut in die falsche Richtung floss. MS und venöse mehrfache Abflussanomalien waren streng miteinander assoziiert (Odds Ratio 0,43). Die abnormale Hämodynamik und Druckerhöhung führe zur Schädigung von Nervengewebe, so die Forscher.
Therapie: Perkutane transluminale Angioplastie
Damit nicht genug. Auch mit einer möglichen Therapie warten Zamboni et al. auf. Sie behandelten im Rahmen einer prospektiven Studie 65 MS-Patienten mit der perkutanen transluminalen Angioplastie (PTA). Wie diesen Monat im Journal of Vascular Surgery veröffentlicht, sank der Venendruck nach der Operation signifikant. Das Risiko von Restenosen war in der Jugularvene mit einer Durchgängigkeitsrate von 53 Prozent häufiger als in der V. azygos mit einer Durchgängigkeitsrate von 96 Prozent. Die in der achtzehn Monate andauernden Studie messbaren klinischen Verbesserungen waren signifikant, insbesondere bei Pastienten mit schubförmig remittierendem Verlauf der MS. Von ursprünglich 27 Prozent der Patienten mit Schubfreiheit stieg die Rate postoperativ auf 50 Prozent. Aktive Läsionen in der Magnetresonanztomografie nahmen signifikant ab. Im Multiple Sclerosis Functional Composite (MSFC), einer Leistungsskala zur Beurteilung des Behinderungsgrades, waren nach einem Jahr bei Patienten mit schubförmig remittierendem Verkauf signifikante Verbesserungen nachweisbar, nicht jedoch bei Patienten mit anderen Verlaufsformen. Auch physische und mentale Lebensqualität nahmen zu, am wenigsten allerdings bei sekundär progressivem Verlauf der MS.
Kritik folgt auf dem Fuße…
Der Ärztliche Beirat der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) nahm zur Krankheitstheorie und Therapiestudie Stellung. Schließlich sorgen die Befunde auch bei vielen MS-Patienten für Aufregung. Demnach sollte in der Diskussion um die von den Italienern genannte "Chronic Cerebrospinal Venous Insufficiency" (CCVSI) nicht übersehen werden, dass eine venöse Insuffizienz bereits früher bei anderen neurologischen Erkrankungen als ursächlich diskutiert wurde. Wenn auch Befunde wie etwa bei der Migräne oder transienten globalen Anämie nicht völlig mit den aktuellen Befunden bei MS-Patienten übereinstimmen, sei eine venöse Insuffizienz der Jugularvenen nicht pathognomisch für MS. Die Ergebnisse wären zwar interessant, doch fehlte es an seriösen rationalen Arbeiten. Der Beirat bemängelt eine fehlende Kontrollgruppe und hält die beschriebene Verbesserung insbesondere bei Patienten mit schubförmig remittierendem Verlauf nicht unbedingt für einen Therapieerfolg. Vielmehr handele es sich um den möglicherweise ganz natürlichen Verlauf dieser MS-Form, bei der sich Schübe regelmäßig zurückbilden. „Nach unserem wissenschaftlichen Urteil entbehren die von Zamboni et al. vorgestellten Studienergebnisse einer soliden wissenschaftlichen Methodik und sind damit wertlos und sogar ethisch bedenklich“.
…wie auch Interesse
US-Amerikanische Wissenschaftler um Robert Zivadinov der University of Buffalo planen mit Zamboni eine größere gemeinsame Studie mit 1.700 Teilnehmern einschließlich Kontrollpersonen, nachdem eine vorläufige Studie an 16 Patienten mit schubförmiger MS und acht gesunden Kontrollpersonen gezeigt hat, dass alle MS-Patienten einen chronisch insuffizienten Blutfluss des Gehirns aufwiesen, nicht jedoch die Kontrollen. Ergebnisse könnten die Vorstellung von MS vollständig verändern, hoffen die Forscher. Eine chirurgische Therapie könnte viele MS-Symptome lindern, so Zamboni. Als Beispiel nennt er einen US-Patienten, der bereits seit zehn Monaten beschwerdefrei sei. Ein fehlender Rückfall innerhalb der kommenden zwei bis drei Jahre spreche für die Richtigkeit seiner Theorie. Zamboni vermutet, dass bis zu 90 Prozent der MS-Patienten Venenblockaden aufweisen.
Ganz neu allerdings ist die Theorie Zambonis tatsächlich nicht. Bereits vor 25 Jahren wurde ein Zusammenhang von venöser Abflussstörung und MS vermutet. Ob dies nun für oder gegen die Hypothese der „venösen MS“ spricht, bleibt abzuwarten.