Drei Prozent aller plötzlichen Herztode in Spanien sind die Folge von Kokainkonsum. Nun stellen Mediziner eine neue These auf: Die Zahl lässt sich offensichtlich auf die gesamte EU übertragen. Dort schniefen nach aktuellen Schätzungen 12 Millionen Europäer.
Für Kardiologen und Niedergelassene bedeuten die Studienergebnisse ein Umdenken - die Frage nach einem bestehenden Kokainkonsum des Patienten gehörte bislang nicht zur üblichen Anamnese in der Praxis. Genau das scheint jedoch angebracht. Denn laut Joaquin Lucena, Chef der Forensischen Pathologie in Sevilla, lassen sich exakt 3,1 Prozent aller plötzlichen Herztode durch einen vorherigen Kokainkonsum der Verstorbenen erklären. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass Kokain Veränderungen in den Arterien und am Herzen auslöst“ , erklärt der Spanier. Immerhin: Zwischen 0,1 und 1,15 mg/L betrug die Konzentration der Droge im Blut und Urin der Dahingeschiedenen. Lucena sah sich dann die Werte im Detail an. Nicht die Dosis an sich scheint das Gift zu machen, sondern das Koks per se. Schon winzige Mengen der Substanz, erkannte Lucena anhand der Blutwerte seiner Klienten, vermögen – je nach Konstitution, Alter und Verfassung der Betroffenen – den gleichen Schaden anrichten wie hohe Kokainkonzentrationen. Raucher sind vom Tod durch den weißen Schnee besonders betroffen, rund 81 Prozent der Obduzierten hatten nach dem Koks zudem wohl noch ein letztes Mal zum Glimmstengel gegriffen.
Nicht minder letal ist ein anderes Laster: Auch Alkohol nach dem Konsum der Droge beförderte die Süchtigen auf Lucenas Tisch. Offensichtlich triggern Nikotin und Ethanol die zerstörerische Wirkung des Kokains, warum das so ist, kann Pathologe Lucena indes noch nicht erklären.
Weitaus dramatischer lesen sich die morbiden Erkenntnisse in einem anderen Kontext. Lucena zufolge gibt es nämlich keinen Grund anzunehmen, dass die Wirkung von Kokain in England, Italien oder im sonstigen Europa anders ausfällt, als unter spanischem Himmel. Allein 7,5 Millionen Europäer im Alter zwischen 15 und 34 Jahren gehören zur bedrohten Schicht – und nur in dieser Altersgruppe könnten Lucena zufolge über 230.000 Menschen durch plötzlichen Herztod sterben, ohne dass Ärzte diesen Zusammenhang kennen. Rechnet man die Opfer gar auf die vermuteten 12 Millionen Kokain-Konsumenten in der Europäischen Union hoch, rafft die Droge sogar über 370.000 Menschen im Laufe ihres Lebens dahin – die Ursache getarnt als plötzlicher Herztod.
Dieser Aspekt ist in dieser Dramatik neu
Bislang wussten Mediziner zu berichten, dass Menschen mit hohem Kokainkonsum ein 7-Mal höheres Risiko für einen nichttödlichen Myokardinfarkt aufweisen. Dass „schätzungsweise ein Viertel der nicht tödlich verlaufenden Myokardinfarkte in der Altersgruppe der 18- bis 45-Jährigen mit einem häufigen Kokainkonsum in Verbindung zu bringen war“ attestiert auch der von der EU publizierte Report „Stand der Drogenproblematik in Europa 2009“. Doch der spanische Pathologe setzt einen drauf – und outet Kokain erstmals als letalen Arterien- und Herzvernichter. Niedergelassene Ärzte müssten sich demnach auf eine neue Anamnese vorbereiten, und das dürfte schwierig sein. „Nehmen Sie Koks?“ statt „Rauchen Sie?“ als einleitende Frage dürfte dem einen oder anderen Patienten den frühen Tod ersparen.
Zu hoffen, dass sich das Problem durch Eindämmung des Drogenkonsums irgendwann von selbst erledigt, scheint illusorisch. Schon der Jahresbericht 2007 der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) ließ nämlich Übles erahnen. Der Kokainmissbrauch, so offenbarten die Zahlen, nimmt deutlich zu. Auf Pathologe Lucena warte somit in Zukunft viel Arbeit: Mit 107 Tonnen lag allein die im Jahr 2007 erfasste und beschlagnahmte Kokainmenge in Europa um mehr als 45 Prozent über der Zahl des Vorjahres.