Patienten erhalten im Heim oft bis zum Lebensende die maximal mögliche Pharmakotherapie. Das liegt am seltenen Kontakt zu Fachärzten – aber auch an Verwandten, die Mediziner unter Druck setzen, alle Möglichkeiten auszuschöpfen. Die Zeit ist reif für Gespräche.
Laut AOK-Pflege-Report 2017 erhalten knapp 60 Prozent aller Pflegebedürftigen fünf oder mehr Arzneistoffe in Dauertherapie. Dabei geht es nicht nur um neurologische oder psychiatrische Indikationen. Viele Wirkstoffe dienen zur Prävention kardiovaskulärer Risiken oder zur Behandlung von Stoffwechselerkrankungen. Nicht immer ist der Mehrwert klar ersichtlich.
Dass Präparate mit fraglichem Nutzen noch bis zum Lebensende verordnet werden, zeigt Paula A. Rochon in einer aktuellen Studie. Sie forscht am Women's College Research Institute in Toronto. Rochon hat medizinische Aufzeichnungen von 9.298 Heimbewohnern analysiert. Von ihnen sah knapp jeder Dritte in den letzten zwölf Monaten einen Facharzt. Anteil der Pflegebedürftigen mit fünf oder mehr Wirkstoffen. © WIdO/AOK-Bundesverband In den letzten 120 Tagen ihres Lebens erhielten 8.027 (86 Prozent) mindestens ein Pharmakon mit fraglichem Nutzen. Besonders häufig schluckten Patienten Antidementia (64 Prozent) oder Lipidsenker (48 Prozent), gefolgt von Thrombozytenaggregationshemmern (18 Prozent) oder Sexualhormonen (2 Prozent). 4.180 Personen (45 Prozent) erhielten sogar noch in der letzten Woche fragwürdige Therapien wie Antidementiva (32 Prozent), Lipidsenker (23 Prozent) oder Thrombozytenaggregationshemmern (10 Prozent). Trotz methodischer Schwächen – Rochon nennt weder Diagnosen noch Todesursachen respektive Obduktionsbefunde – stimmen ihre Zahlen nachdenklich. Wie kommt es zu diesem Phänomen?
DocCheck sprach dazu mit Dr. Cornelia Karopka aus Pölzig, Thüringen. Sie betreut zusammen mit einem angestellten Kollegen rund 50 Patienten im Pflegeheim. Können diese aufgrund von schweren Krankheiten ihren Willen nicht mehr selbst äußern, sind Verwandte in der Pflicht. Genau hier liegt ihrer Erfahrung nach ein Problem. „Nicht selten wünschen Angehörige die maximal mögliche Therapie, weil sie sich kein schlechtes Gewissen machen wollen“, erzählt Karopka. „Es ist oft schwer, zu vermitteln, dass Patienten beispielsweise kein Statin mehr brauchen.“ Laien würden nicht verstehen, warum man eine Therapie besser abbreche. So sei die Wahrscheinlichkeit bei Menschen mit fortgeschrittenen Krebserkrankungen, an einem Schlaganfall zu sterben, eher gering. „Das heißt, die Lebensqualität ändert sich nicht“, erklärt Karopka. Dies zu erklären, mache viel Arbeit und koste auch Zeit, helfe aber viel.
Karopka wünscht sich nicht nur mehr Gespräche mit den Familien, sondern mehr Expertise vor Ort: „Die Aussage Rochons, ein Drittel aller Patienten hätte im letzten Jahr keinen Facharzt gesehen, finde ich gelinde gesagt untertrieben.“ Ihrer Erfahrung nach ist der Anteil wesentlich geringer. „Nur die wenigsten Fachärzte kommen in Pflegeheime oder machen Hausbesuche.“ Vor Ort seien allenfalls Neurologen. Betrachtet man Zahlen aus dem Pflege-Report 2017, werden auch hier Defizite sichtbar. Während 54 Prozent der spanischen und 47 Prozent der deutschen demenzkranken Heimbewohner Neuroleptika erhalten, sind es nur zwölf Prozent in Schweden und 30 Prozent in Finnland. Anteil der Neuroleptika-Verordnungen bei Pflegebedürftigen mit Demenz in Europa © WIdO/AOK-Bundesverband Ob jede Verordnung tatsächlich vom Facharzt kommt, ist unklar. Der Einsatz von Neuroleptika bei den Symptomen des herausfordernden Verhaltens entspricht häufig nicht den Leitlinien“, kritisiert Dr. Antje Schwinger, Leiterin des Forschungsbereichs Pflege im Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO).
Über die Beweggründe lässt sich nur spekulieren. Personal ist knapp, und es fehlt Zeit für nichtmedikamentöse Verfahren. In diesem Kontext wurden 2.500 Pflegekräfte aus Deutschland befragt. Sie gaben an, bei mehr als der Hälfte aller Bewohner würden Psychopharmaka eingesetzt. Zwei Drittel der Betroffenen (64 Prozent) erhielten ihre Verordnungen auch länger als ein Jahr. Ein Großteil (82 Prozent) empfindet die Medikation speziell bei Demenz als „angemessen“. © WIdO/AOK-Bundesverband „Natürlich gibt es den Druck von Mitarbeitern, dass Heimbewohner möglichst leicht zu betreuen sind“, bestätigt Karopka. Im Zweifelsfall setzt sie aber durch, dass sich ein Neurologe den Patienten ansieht. Auch bei Antidementiva komme man an den Punkt, zu überlegen, ob die Pharmakotherapie noch etwas bringe. „Das machen zu wenige Kollegen.“ Kaum ein Arzt entscheide sich gegen die Leitlinie. In der Angst vor klagenden Angehörigen haben viele Ärzte nicht die Kraft, Medikamente abzusetzen. Karopka: Wir sind nicht mehr nur unserem ärztlichen Gewissen verpflichtet, sondern den Kassen, dem Gesetzgeber und nicht zuletzt den Angehörigen.“