Zahlreiche Fachgesellschaften waren sich einig: Ein bis zwei Tabletten täglich mit Acetylsalicylsäure richten keinen großen Schaden an und schützen vor Infarkt und Schlaganfall. Haben sie sich geirrt?
Wer im Internet die Adresse www.wonderdrug.com anklickt, findet keineswegs einen zwielichtigen Online-Shop für Arzneimittel aus Fernost, sondern die Beschreibung eines der meistverkauften Schmerzmittel der Welt. Rund zehn bis zwölf Milliarden Tabletten gingen in seiner 110-jährigen Geschichte durch die Hände der Apotheker.
Trotz des beträchtlichen Alters, beschäftigen sich immer noch rund 3500 Fachartikel jährlich mit Acetylsalicylsäure (ASS). Um, wie auch in einer aktuellen deutschen Studie thematisiert, dem drohenden (erneuten) Schlaganfall oder Herzinfarkt vorzubeugen, nehmen rund vier von zehn Amerikanern ihre Aspirin-Tablette täglich. Viele Ärzte weltweit empfehlen den Wirkstoff für die Primärprävention gegen Herzinfarkt und Schlaganfall.
Risikopatienten: ja - Gesunde: Nein.
„Konservative Berechnungen schätzen, dass etwa 107.000 Patienten jährlich wegen gastrointestinalen Komplikationen durch Nonsteroidale anti-inflammatorische Wirkstoffe (NSAID, zu ihnen gehört auch ASS) klinisch behandelt werden. Allein unter Arthritis-Patienten ereignen sich mindestens 16 500 Todesfälle jährlich im Zusammenhang mit NSAID“ lautete schon das Fazit eines Artikels aus dem Jahr 1998 im „American Journal of Medicine“. Andere neue Studien stellen die Unbedenklichkeitsgarantie für ASS weiter in Frage. Im „Lancet“ erschien 2009 eine Arbeit, die sechs große Studien zur Primärprävention und 16 zur Sekundärprävention mit weit mehr als 100.000 Teilnehmern analysierte. Bei der Primärprävention scheinen die Vorteile des altbewährten Wirkstoffs auf den ersten Blick für die Tablette zum Frühstück zu sprechen: 20 Prozent weniger nicht-tödliche Herzinfarkte. Aber auf der anderen Waagschale stehen jedoch rund ein Drittel mehr Fälle innerer Blutungen. Umgerechnet auf 100.000 Patientenjahre kommen mit der Einnahme von Aspirin und Co. 60 mehr hinzu.
Etwas anders sieht die Rechnung bei Patienten mit einem höheren Risiko für Herzerkrankungen aufgrund von Vorerkrankungen aus. Dort sorgt ASS für einen größeren Risikoschutz vor Herzinfarkt und Schlaganfall. Die gleichbleibende Blutungsquote fällt dabei nicht mehr so stark ins Gewicht. Colin Baigent von der Universität Oxford, der die Lancet-Analyse verfasst hat, gibt dabei aber auch zu bedenken, dass auch da Aspirin wohl nicht „The Wonderdrug“ gegen den Herzinfarkt ist. Denn wenn diese Patientengruppe Cholesterinsenker wie etwa Statine bekommt, relativiert sich der ASS-Schutz. In den großen analysierten Studien war diese Patientengruppe kaum vertreten.
Diese Ansicht teilt er mit Matthias Endres, Direktor der neurologischen Klinik an der Berliner Charité. Allerdings, so fügt Endres in einem Kommentar für deutsche Gesellschaft für Neurologie hinzu, stehen Subgruppenanalysen bisher aus. Gilles Montalescot von der Pariser Universitätsklinik Pitié-Salpetriger erläutert weitere Unverträglichkeiten beim populären Schmerzmittel: Asthma, Sinusitis, Urtikaria oder Angioödeme können bei sensiblen Patienten schnell zu lebensbedrohlichen Komplikationen führen.
ASS gegen Krebs und Diabetes?
Onkologen wiederum legen etwas Gewicht auf die Pro-Seite der ASS-Waage. John Burn aus dem englischen Newcastle und sein Team präsentierten auf dem Europäischen Krebskongress in Berlin im letzen Jahr Daten, nachdem 600mg ASS täglich die Häufigkeit von Karzinomen von Kolon und Endometrium bei Hochrisikopatienten halbieren. Neue Studien beschäftigen sich mit positiven Effekten im Zusammenhang mit Brustkrebs. Dagegen erfüllten sich die Hoffnungen von Diabetikern auf ein längeres Leben dank ASS entsprechend japanischen und schwedischen Untersuchungen nicht.
Insgesamt scheint es, dass die Empfehlungen zahlreicher Fachgesellschaften besonders in den Vereinigten Staaten überholt sind. Noch in den letzten beiden Jahren rieten die American Colleges of Cardiology und Gastrointeriology wie auch die American Heart Association zu Aspirin zur Primärprävention. Sogar Colin Baigent empfahl noch vor einigen Jahren die tägliche Tablette auch für Gesunde.
Lautet nun der Schluss: Weg mit der ASS-Tablette am Frühstückstisch? Matthias Endres von der Charité macht wie auch andere Experten deutlich, dass eine genaue Analyse von Subgruppen noch aussteht, bei denen der Wirkstoff eher hilft als schadet und umgekehrt. Entsprechende Studien sind geplant oder bereits am Laufen. Zwei große Studien mit rund 15 000 Teilnehmern, (ASCEND und ACCEPT-D) sollen in den nächsten Jahren auch klären, ob etwa Diabetiker ohne Gefäßerkrankungen von der regelmäßigen ASS-Zufuhr profitieren.
Bis dahin sollten Aspirin und seine Geschwister bei Gesunden erst einmal im Apothekenschrank für Notfälle bleiben. Denn, so Matthias Endres, „die wahrscheinlich effektivste Primärprävention Zerebral- und vaskulärer Erkrankungen besteht im Verzicht auf Zigaretten.“ Gesunde Ernährung und ein paar sportliche Übungen dazu halten den Kreislauf besser in Schuss als jede „Wonder-Drug“.